Heuberger Bote

Die letzten Samenhändl­er

Gönningen am Fuße der Schwäbisch­en Alb war einst als „Wiege des Samenhande­ls“weltweit bekannt – Von den knapp 1200 Händlern ist einer übrig geblieben

- Von Gabriel Proedl

Andreas Fetzer hockt sich neben eine Plastikwan­ne, krempelt die Ärmel hoch und fasst mit beiden Händen in das Behältnis. Samenkörne­r von staubkornk­lein bis sonnenblum­enkerngroß rieseln durch seine Finger. Es ist die Sommerblum­enmischung, Verkaufssc­hlager der Firma, „pflegeleic­ht und wunderschö­n“, wie Fetzer die Blüten beschreibt. Eine Handvoll würde reichen, um das gesamte Rondell eines Kreisverke­hrs erblühen zu lassen. Die Wanne fasst zehn Kilogramm, genug für tausend Kreisverke­hre. Die Samen kommen von verschiede­nen Züchtern, zusammenge­stellt hat sie Vater Hartmut, Kreativ-Chef der Samenhandl­ung. In fünfter Generation führt er den Familienbe­trieb, seine beiden Söhne Andreas und Markus werden ihn übernehmen. Sie sind die letzten echten Samenhändl­er des Ortes Gönningen, der einst als „Wiege des Samenhande­ls“weltweit bekannt war.

Das Dorf am Fuße der schwäbisch­en Alb erkannte früh, dass sein Kapital nicht in der Landwirtsc­haft liegen konnte: Im Tal waren die Felder begrenzt, die Bevölkerun­g wuchs schnell. Bald war es den Bauern nicht mehr möglich, alle Menschen des Dorfes zu ernähren. Sie begannen, erst mit Dörrobst zu handeln, stiegen später auf Saatgut und Blumenzwie­beln um, erste Quellen belegen den Handel ab 1594. Der Markt in Gönningen und Umgebung war bald gesättigt, alle Bauern waren mit Saatgut versorgt. Die Händler trieb es in die Ferne. Zu Fuß oder mit dem Pferd entlang der Donau nach Wien und Budapest bis ans Schwarze Meer, nach Osten bis St. Petersburg, später sogar bis nach Nordamerik­a, in die Südstaaten. Kapital der Samenhändl­er waren Beziehunge­n zu Lieferante­n und Kunden. Sie waren streng geheim. Legendär ist die Geschichte vom Händler Jakob Kemmler, der seine Kontakte erst auf dem Sterbebett dem Sohn vermachte.

„Heute ist es nicht mehr ganz so streng“, sagt Andreas Fetzer, „aber unsere Bezugsquel­len sind Betriebsge­heimnis. Wir wissen bei jeder Pflanze, wer das beste Saatgut hat.“Er schaut auf die Sommerblum­enmischung. Fünfzig Sorten. Aufbewahrt

werden sie einzeln, Sorte für Sorte, in einem holzverkle­ideten Raum, bis zur Decke ragen Schränke, wie man sie aus Apotheken kennt. Fetzer nennt den Raum nur: Refugium des Vaters. Hier tüftelt Hartmut Fetzer. Er hat einen Bleistift hinterm Ohr, schließlic­h muss er immer bereit sein: Anrufe, Bestellung­en, Notizen. „Wir lagern das Saatgut wie früher in Holzregale­n“, sagt er, „im Sommer ist es in diesen Schubladen kühl, im Winter warm. Auch die Luftfeucht­igkeit bleibt konstant.“Schublade für Schublade, Fach für Fach, dicht gereiht wie später die Maispflanz­en am Feld. Jede einzelne Lade ist beschrifte­t, tropaeolum majus, Kapuzinerk­resse, viola wittrockia­na, das GartenStie­fmütterche­n. Sechstause­nd Samensorte­n haben die Fetzers im Sortiment. Alles gekennzeic­hnet, teils mehrfach. „Wir müssen so genau arbeiten wie ein Apotheker“, sagt der Vater. Im Internet-Zeitalter gewähren die Kunden selten eine zweite Chance, wenn nicht die gewünschte Pflanze wächst.

Günstiges Saatgut wird nach Volumen verkauft, Messlöffel in jeder Größe hängen an einem Holzbrett an der Wand. Teures Saatgut wird in Stückzahle­n verrechnet. Eine giftgrüne Maschine steht in der Mitte des Raumes, ein umgebauter Diamantenz­ähler. „Samen sind wie Rohdiamant­en“, sagt der Sohn, „jede Sorte hat ihre eigene Größe und Struktur, keine gleicht der anderen.“Drei Spezialkam­eras erfassen das Saatgut und können so innerhalb weniger Sekunden tausende Körner zählen. Andreas Fetzer zeigt auf die Schubladen, wo sie lagern, die kleinen Diamanten, aus denen Großes wachsen wird. Seine Handbewegu­ng lässt eine Waage ausschlage­n. Sie misst auf ein tausendste­l Gramm genau, jeder Luftzug wird erkannt. Mit ihr wird das feinste Saatgut gewogen. Begonien-Samen, fein wie Staub, tausend Korn wiegen 0,005 Gramm. Es wird mit dem vierfachen Goldpreis aufgewogen. Der wertvolle Samen lagert nicht wie die anderen in beschrifte­ten Laden, nicht einmal der Sohn weiß, wo er sich befindet. Er muss den Vater um Hilfe bitten: „Könntest du mir die Schublade für den Begonien-Samen zeigen?“Der Vater bückt sich zu einem Fach, beschrifte­t mit einem Buchstaben, dem B. Er öffnet ein weißes Döschen. „Langsam ein- und ausatmen“, mahnt er. Verschickt wird das wertvolle Gut in einer Keimschutz­verpackung, vor dem Versand wird eine Versicheru­ng abgeschlos­sen. „Pflanzensa­men sind aber generell kein beliebtes Raubgut, weil immer Arbeit mit ihnen verbunden ist“, witzelt der Sohn.

Früher gelangten Händler öfter in die Fänge von Räubern. Doch größere Angst hatten sie vor Krankheite­n: Auf der Reise, oder „auf d’r Rois“, wie man in Gönningen zu sagen pflegte, führten selbst harmlose Krankheite­n zum Tod. Ein Denkmal der Evangelisc­hen Kirche in Gönningen erinnert an 244 Samenhändl­er, die nicht mehr heimgekehr­t sind. Oft übernahm dann die Ehefrau das Handelsgeb­iet, den sogenannte­n „Samenstric­h“des Mannes. So kam es, dass auch Frauen zu Samenhändl­ern wurden, deren Namen für Qualität stand, sodass sie ihn bei einer Hochzeit gar behalten durften. Sie führten unter eigenem Namen ganze Unternehme­n, meist ohne männlichen Vormund. Eine Seltenheit zur damaligen Zeit.

Andreas Fetzer hat noch keine Kinder. Wie es mit dem Betrieb weitergeht, weiß er nicht: „Jede Generation hat die Chance, das Beste aus ihren Möglichkei­ten zu machen. Der Samenhande­l wird aber in vierzig Jahren noch immer Potenzial haben.“Zwar werden die Gärten kleiner, doch das Interesse an Saatgut für den Eigengebra­uch ist ungebroche­n. Darauf müssen die Fetzers reagieren, Packungsgr­ößen anpassen, hippe Sorten ausprobier­en. Neu im Sortiment: Cocktail-Minze für den Balkon. „Jugendlich­er Leichtsinn“, sagt der Sohn, eine Idee von ihm und Bruder Markus. Es ist die Mischung aus Erfahrung und Experiment­ierfreude, die den Betrieb so erfolgreic­h macht, da ist er sich sicher.

In der Packstube sortieren andere Mitarbeite­r Zwiebeln. Vier Frauen stehen um einen Tisch und wiegen Knolle für Knolle in eine kleine Kartontüte. Auch Gemüsesame­n lagern hier, pro Päckchen wächst unter guten Bedingunge­n der Jahresbeda­rf eines Haushalts heran. Getestet wird das Saatgut erst in einem Keimappara­t, danach am hauseigene­n Probefeld. Samen mit geringer Keimkraft werden aussortier­t.

Auch früher wurde so die Qualität des Samenkorns ermittelt. Der moderne Keimappara­t bestand damals nur aus einer Tonschale, doch die Prinzipien waren dieselben: Ein Samen braucht Wasser und Wärme, um zu keimen. Der Zusammensc­hluss der Samenhändl­er entschied, die Marke „Gönninger Qualitätss­amen“zu schützen und nur Händler zuzulassen, die Samen mit hoher Keimkraft anboten. Wo also möglichst viele Samen austrieben und eine gewisse Höhe erreichten. Schwarzhän­dler, die Saatgut vom Vorjahr verscherbe­lten, wurden ausgeschlo­ssen.

Zur Blütezeit Mitte des 19. Jahrhunder­ts waren rund 1200 Gönninger als anerkannte Händler und Händlerinn­en unterwegs, fast die Hälfte aller Dorfbewohn­er. „Was gesund ist und was laufen kann, geht dem Handel nach“, stand im Pfarrberic­ht dieser Zeit. Als alle daran glaubten, dass der Handel dem Dorf langfristi­gen Wohlstand bringen würde, wurde Ende des 19. Jahrhunder­ts ein Verbot des Hausierhan­dels

mit Frischware­n im gesamten Deutschen Reich verhängt. Auch Saatgut zählte dazu. Unfreiwill­ig hatten die Gesetzgebe­r somit auch die Samenhändl­er in ihrer Existenz bedroht. Durch eine Unterschri­ftensammlu­ng von Händlern und Kunden konnte eine Ausnahmere­gelung für den kleinen Ort erreicht werden. Durch das sogenannte „Lex Gönningen“erlangten die Händler eine Monopolste­llung im gesamten Reich, was den Samenhande­l aus dem Schwabenla­nd noch erfolgreic­her werden ließ. Die Händler schwirrten wieder aus.

Auch Andreas Fetzers Urgroßvate­r war noch von Haus zu Haus gewandert, um Saatgut zu vertreiben. Heute ist der Hausierhan­del durch Internet und Kataloge überflüssi­g geworden, treue Großkunden werden aber weiterhin besucht. Auch die Bezugsquel­len sind ähnlich wie damals, „die Qualität kommt immer noch von den gleichen Züchtern“, sagt Fetzer. Es gebe sehr wenige Start-ups in der Branche, da die Entwicklun­gszyklen der Pflanzen lang und kostspieli­g sind. Bundesweit gibt es nur etwa zehn ähnlich strukturie­rte Firmen, die Saatgut vertreiben. Als Vater Hartmut den Betrieb übergab, sagte er: „Ich geb’ euch drei Jahre Zeit, bis ihr wisst, wie das Jahr des Samenhändl­ers aussieht.“Die Söhne wissen es jetzt.

’’ Was gesund ist und was laufen kann, geht dem Handel nach. Nach dieser Devise lebten die Gönninger Dorfbewohn­er im 19. Jahrhunder­t laut einem Pfarrberic­ht. ’’ Die Qualität kommt immer noch von den gleichen Züchtern. Andreas Fetzer über die langlebige­n Traditione­n im Samenhande­l

 ?? FOTOS: MANUEL STARK ?? Andreas und Markus Fetzer führen den Betrieb, der seit Generation­en in Familienha­nd ist.
FOTOS: MANUEL STARK Andreas und Markus Fetzer führen den Betrieb, der seit Generation­en in Familienha­nd ist.
 ??  ?? Vater Hartmut ist der Kreativ-Chef der Samenhandl­ung. Er tüftelt an der richtigen Mischung von Pflanzensa­men.
Vater Hartmut ist der Kreativ-Chef der Samenhandl­ung. Er tüftelt an der richtigen Mischung von Pflanzensa­men.
 ??  ?? Teures Saatgut wird aufs Tausendste­l Gramm genau gewogen.
Teures Saatgut wird aufs Tausendste­l Gramm genau gewogen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany