Hochamt für ein weltberühmtes Pergament
1300 Jahre Stift St. Gallen – Neue spektakuläre Ausstellung rund um den Klosterplan von 820/830
- Seit 2013 kann man sich auf dem Campus Galli im Wald bei Meßkirch auf eine Zeitreise ins frühe Mittelalter machen. Basierend auf dem St. Galler Klosterplan von 820/ 830 wird dort mit den damaligen Mitteln eine karolingische Klosterstadt nachgebaut. Dieses einzigartige Dokument steht nun im Zentrum einer neuen spektakulären Dauerausstellung des Stiftsarchivs St. Gallen – ein Fest für Freunde der Kultur des Mittelalters, vor allem auch aus unserer Region.
Wie macht man aus einem Zweiklang einen Dreiklang? Diese Frage hat die Macher im Klosterbezirk von St. Gallen seit Jahren umgetrieben. Dass der irische Mönch Gallus 612 in der Ostschweiz südlich des Bodensees eine kleine Zelle gründete, gilt als Beginn einer Klostergeschichte von globalem Rang, schon 1983 gewürdigt durch die Ernennung zum Weltkulturerbe. Für diese Berühmtheit steht heute das prachtvolle Gesamtkunstwerk der barocken Kathedrale. Ein Kleinod sondergleichen ist zudem der Bibliothekssaal, die „Seelenapotheke“, wie die Benediktiner um 1760 ihren Hort von über 170 000 Büchern nannten. Nur das Stiftsarchiv, immerhin das älteste Klosterarchiv des Abendlands und mit seinen rund 20 000 Dokumenten für Eingeweihte eine 1aAdresse, war – kulturtouristisch gesehen – nicht präsent genug.
Dem hat man nun zur 1300-JahrFeier der Klostergründung von 719 durch den heiligen Otmar abgeholfen. Und wie! Zum Kostbarsten der Stiftsbibliothek gehört der Klosterplan von 820/830, die älteste bekannte Architekturzeichnung Europas. Aber aufbewahrt wurde das singuläre Pergament aus konservatorischen Gründen in den Klimaschutz-Katakomben des Archivs. Nun rückt es ins Rampenlicht – allerdings nur bildlich gesprochen. Denn Licht ist das Allerletzte, was es vertragen kann.
Nachbau im Campus Galli
Erhalten blieb der Idealplan einer karolingischen Klosterstadt, der um 820/830 nachweislich im Bodenseekloster Reichenau für Abt Gozbert von St. Gallen gezeichnet wurde, durch einen Zufall. Im 12. Jahrhundert benutzte ein Mönch die leere Rückseite des 112 x 78 Zentimeter großen Plans zur Abschrift einer Vita des heiligen Martin. Erst um 1600 wurde die Bedeutung dieses Grundrisses einer Klosteranlage erkannt. Rund 50 Gebäude sowie fünf Gärten umfasst der eher unscheinbare Plan, beschrieben in über 300 Inschriften – von der Kirche über Abtshaus, Schlafsaal, Schreibstube, Schule, Gästeherberge, Krankenhaus, Küche, Kornspeicher und Brauerei bis zum Schweinestall. Seither haben sich unzählige Forscher mit dem fünffach gefalteten Pergament beschäftigt, dicke Wälzer über seine kulturhistorische Bedeutung geschrieben und vor allem über der Umsetzung des zweidimensionalen Plans in die Dreidimensionalität gebrütet. Wie hoch waren die Gebäude? Wie sahen die Dächer aus? Wie muss man sich die Einrichtung vorstellen?
Fragen über Fragen. So verwundert es nicht, dass jemand auf die Idee kam, die Anlage nachzubauen. Von dem auf rund 40 Jahre angelegten Campus-Galli-Projekt erhofft man sich Erkenntnisse über Bautechnik und Leben vor 1200 Jahren, die sich nur im echten Experiment gewinnen lassen. Anfängliche Befürchtungen, hier könnte ein Art Disneyland entstehen, verflüchtigten sich relativ schnell. Der wissenschaftliche Ansatz wird durch einen einschlägig besetzten Beirat gesichert. Und auch in St. Gallen verfolgt man das Unterfangen mit großem Interesse. Stiftsarchivar Peter Erhart weiß zwar durchaus um den spekulativen Aspekt des Ganzen – ein Grundriss ist keine Bauzeichnung. Aber als Hüter des einmaligen St. Galler Archivs sieht er auch die Chance, dass manche der Angaben in seinen Akten zum damaligen Klosterleben bestätigt werden könnten.
Allein 850 Urkunden zwischen 700 und 1000 liegen in dem Archiv, und rund 1000 Orte verdanken ihre erste Erwähnung solchen frühen Texten aus St. Gallen – meist weil das Kloster dort durch Schenkungen zu Besitz gekommen war. Allein 300 dieser Orte liegen in Süddeutschland, viele davon im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung: Trossingen, Spaichingen, Tuttlingen, Buchhorn (heute Friedrichshafen), Tettnang, Langenargen, Wangen, Kißlegg, Leutkirch, Laupheim und Ulm, um nur ein paar größere zu nennen. Erhalten blieben die Urkunden aufgrund ihrer Aufbewahrung. Während solche Pergamente, vor allem zum Rechtsverkehr, in anderen Klöstern in Buchform abgeschrieben und dann entsorgt wurden, behielten die St. Galler Mönche die Originale. Zudem verpackten sie die Dokumente vorausschauend in Kisten – stets bereit zum schnellen Abtransport in Zeiten von Kriegswirren oder etwa bei Stadtbränden. Peter Erhart: „Das war traditionsbewusstes Bewahren im Vorausblick auf eine nicht begrenzte Zukunft.“So kann man das sehen.
Um diesen Schatz nun besser bekannt zu machen, wurden keine Ausgaben gescheut. Vier Millionen Franken hat man in Umbau und Einrichtung eines Saales im Stiftsbezirk gesteckt: Klimaschleusen, modernste Anlagen zur Regulierung von Licht, Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Sicherheitsvitrinen für die hochempfindlichen Exponate – alles vom Feinsten. Multivision versteht sich von selbst. Ein kleiner Film erläutert den Zweck des Archivs und katapultiert den Besucher in die Zeit Karls des Großen. Zudem wird die Arbeit in einem Skriptorium vergegenwärtigt – vom Pergament über die Ornamentmuster bis zum Gänsekiel.
Apflau, Laimnau, Oberdorf
Dann die Urkunden. Unter Dämmerlicht liegt da etwa das „St. Galler Verbrüderungsbuch“aus dem 9. Jahrhundert, die unschätzbar wertvolle Dokumentation eines Netzwerks des Gebets, das 1500 Mönche aus den Klöstern Europas verband. Ebenso einzigartig das „Professbuch“aus derselben Zeit, in dem die Gelübde der Novizen beim Eintritt ins Kloster notiert wurden. Zudem steht eine Vitrine bereit, in der jeweils auf Zeit Urkunden mit Erstnennungen von Orten ausgestellt werden, die gerade ein Jubiläum feiern. Den Auftakt macht für drei Monate ein Dreigestirn aus dem Hinterland von Langenargen am Bodensee: Apflau, Laimnau und Oberdorf, in einer Urkunde von 769, also vor 1250 Jahren, erstmals erwähnt.
Und schließlich das Allerheiligste, eine Art Tempelcella für den Klosterplan in der Mitte: Nur eine kleine Gruppe darf auf Signal eintreten und sich um ein Plexiglas-Modell des Klosterareals auf der Basis des Plans scharen. Ein kurzer Film noch zum Klosterleben um 800, und dann geht das Spektakel los: Zu Choralklängen hebt sich das Modell langsam an, und darunter wird der Plan sichtbar – für ganze 15 Sekunden. Dann ist schon wieder Schluss. Ein Hochamt für ein altes Pergament! Inszenierung pur, aber der Ehrfurcht dienlich. Beim Hinausgehen weiß man, warum diese neue Schau „Wunder der Überlieferung“heißt.
Die touristische Verwertung dieser fantastischen Kulturschätze ist das eine. Sie wird nun mit der den Schweizern eigenen unaufgeregten Gediegenheit betrieben. Für den interessierten Laien zieht man alle Register – bis hin zum kulinarischen Beiwerk. In St. Galler Spitzenlokalen werden bereits Gerichte mit Obst aufgetischt, das im Garten des Klosterplans auftaucht: Dessert-Variation mit Mispeln etc. Aber mit der heutigen hohlen Eventokratie hat das Ganze dann doch nichts zu tun. Das Hauptaugenmerk liegt immer auf dem spirituellen Ertrag. Wer ab sofort diesen neuen Dreiklang in St. Gallen auf sich wirken lässt, durchmisst 1400 Jahre Geistesgeschichte des Abendlandes.
„Das war traditionsbewusstes Bewahren im Vorausblick auf eine nicht begrenzte Zukunft.“
Stiftsarchivar Peter Erhart