Der längste Friede Europas
Bischof Fürst und Ministerpräsident Kretschmann heben die Verdienste der EU hervor
- Kurz vor der Europawahl werden die Warnungen dringlicher. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht Europa vor einer „fundamentalen Richtungsentscheidung“. Für den Rottenburger Bischof Gebhard Fürst ist der Urnengang am 26. Mai eine „Schicksalswahl“.
Beide sind sich einig, dass christliche Werte nicht mit Nationalismus und dem Wunsch nach Abschottung vereinbar sind. Das verdeutlichten sie, gemeinsam mit Vaude-Geschäftsführerin Antje von Dewitz, am Freitagabend in der Akademie Weingarten der Diözese RottenburgStuttgart im Gespräch zum Thema „Freiheit und Verantwortung. Mehr Mut zu Europa?!“, moderiert von „Schwäbische Zeitung“-Chefredakteur Hendrik Groth.
Wer die Haltung des Politikers Kretschmann und des Geistlichen Fürst kennt, weiß, dass es das Fragezeichen im Motto nicht gebraucht hätte. Beide warnen vor einer Zerstörung der EU durch nationalistische Bestrebungen, Populismus und isolationistische Tendenzen. Die EU als institutionalisierte Idee des Friedens ist einer der wesentlichen Argumente Kretschmanns für mehr Europa. „Vom Westfälischen Frieden bis zur Gründung der Europäischen Union hat es 49 Kriege in Europa gegeben. Krieg war der Normalzustand“, erklärte Kretschmann. Seit 70 Jahren herrscht Frieden, den „wir der christlichen, humanistischen Haltung zu verdanken“haben, so der 70Jährige.
Die speist sich aus mehreren Traditionen. Kretschmann erinnerte an die Rede des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, das Abendland habe seinen Ausgang von drei Hügeln genommen: „Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“Als Sinnbilder für Frieden stehe Golgatha, die Akropolis für Demokratie und das Kapitol für eine Rechtsordnung – sie seien die Grundpfeiler Europas.
Darüber hinaus habe der christliche Glaube in Form der rund 10 000 Klöster das europäische Bewusstsein entscheidend mitgeprägt. Sie seien nicht abgeschottet gewesen, sondern nach außen hin geöffnet, wie das „erste Internet“, in dem Wissen über Landesgrenzen weitergegeben worden sei und Menschen alphabetisiert wurden.
Ihre Errungenschaften – Frieden, Wohlstand, Freiheit – seien durch Nationalismus und Isolationismus aktuell in Gefahr. Diese seien auch ein Auswuchs der Angst vor dem Kontrollverlust. Die Antwort darauf könne aber nicht das Zurück in die Nationalstaaten sein. „Die Rückkehr zum Nationalismus ist kein Weg zur Kontrolle, sondern zum Kontrollverlust“, sagte Kretschmann. Das zeige aktuell das Chaos um den Brexit, dessen Befürworter mit dem Slogan „Die Kontrolle zurückgewinnen“geworben hatten.
Wer nach britischem Vorbild nun mit einem Dexit, einem Austritt Deutschlands aus der EU, liebäugle, „ist kein Patriot, sondern ein politischer Hasardeur“, so Kretschmann. Wer so etwas propagiere, habe die Welt nicht verstanden. Denn bei ihren „gewaltigen Herausforderungen“seien wir alleine „schlichtweg zu klein, um mit den USA oder China die Weltordnung mitzuprägen“. Bei der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz oder dem Wandel in der Automobilindustrie drohen andere Länder, Deutschland abzuhängen. „Darauf kann es nur eine europäische Antwort geben“, so Kretschmann.
Durchaus Reformbedarf
Dabei gebe es bei der EU durchaus Reformbedarf. Während die großen Herausforderungen gemeinsam gelöst werden sollen, sollen die kleinen in der Hand der Länder bleiben. Das Prinzip der Subsidiarität, des „von unten nach oben“, das Kretschmann auch bei der katholischen Soziallehre sieht, soll für die Ausgestaltung der EU gelten. Brüssel solle nicht mitbestimmen, wie wir „Wohnraum zu schaffen oder unsere Wasserversorgung gestalten sollen“. Sie solle nicht den „Schnapsbrenner im Schwarzwald regulieren, der dort die Streuobstwiesen pflegt“.
Anders als Kretschmann forderte Fürst weniger eine politische, sondern vielmehr eine spirituelle Neuausrichtung der EU. Man müsse „Europa eine Seele geben, neuen Elan“. Als Leitfigur „für ein humanes und solidarisches Europa“könne dabei der heilige Martin gelten. Er stehe für die sozialen, karitativen und christlichen Wurzeln der europäischen Kultur. St. Martin stehe für die Ideale des Nobelpreisträgers EU, die etwas geschaffen hat, „was Europa bisher nicht gelungen ist: Frieden und Freiheit“. Die sieht Fürst am „Vorabend der Europawahl“gefährdet.
Vaude-Geschäftsführerin Antje von Dewitz ist noch pessimistischer. Weder Europa noch die Kirche könnten den Menschen derzeit Antworten auf die Fragen in „düsteren Zeiten“geben. Sie nehme „eine Orientierungslosigkeit der Menschen wahr“, sagte sie. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich würden immer größer und der Klimawandel führe uns in die Katastrophe. Und dennoch gebe es, „Unternehmen die auf Kosten von Mensch und Natur nahezu ungezügelt wirtschaften können“. Sie rief die Menschen dazu auf, wählen zu gehen. Denn: „Es gibt keine Alternative zu Europa. Es hat Potenzial für die beste aller möglichen Wertegemeinschaften.“