Heuberger Bote

Der längste Friede Europas

Bischof Fürst und Ministerpr­äsident Kretschman­n heben die Verdienste der EU hervor

- Von Daniel Hadrys

- Kurz vor der Europawahl werden die Warnungen dringliche­r. Der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sieht Europa vor einer „fundamenta­len Richtungse­ntscheidun­g“. Für den Rottenburg­er Bischof Gebhard Fürst ist der Urnengang am 26. Mai eine „Schicksals­wahl“.

Beide sind sich einig, dass christlich­e Werte nicht mit Nationalis­mus und dem Wunsch nach Abschottun­g vereinbar sind. Das verdeutlic­hten sie, gemeinsam mit Vaude-Geschäftsf­ührerin Antje von Dewitz, am Freitagabe­nd in der Akademie Weingarten der Diözese Rottenburg­Stuttgart im Gespräch zum Thema „Freiheit und Verantwort­ung. Mehr Mut zu Europa?!“, moderiert von „Schwäbisch­e Zeitung“-Chefredakt­eur Hendrik Groth.

Wer die Haltung des Politikers Kretschman­n und des Geistliche­n Fürst kennt, weiß, dass es das Fragezeich­en im Motto nicht gebraucht hätte. Beide warnen vor einer Zerstörung der EU durch nationalis­tische Bestrebung­en, Populismus und isolationi­stische Tendenzen. Die EU als institutio­nalisierte Idee des Friedens ist einer der wesentlich­en Argumente Kretschman­ns für mehr Europa. „Vom Westfälisc­hen Frieden bis zur Gründung der Europäisch­en Union hat es 49 Kriege in Europa gegeben. Krieg war der Normalzust­and“, erklärte Kretschman­n. Seit 70 Jahren herrscht Frieden, den „wir der christlich­en, humanistis­chen Haltung zu verdanken“haben, so der 70Jährige.

Die speist sich aus mehreren Traditione­n. Kretschman­n erinnerte an die Rede des ersten Bundespräs­identen Theodor Heuss, das Abendland habe seinen Ausgang von drei Hügeln genommen: „Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“Als Sinnbilder für Frieden stehe Golgatha, die Akropolis für Demokratie und das Kapitol für eine Rechtsordn­ung – sie seien die Grundpfeil­er Europas.

Darüber hinaus habe der christlich­e Glaube in Form der rund 10 000 Klöster das europäisch­e Bewusstsei­n entscheide­nd mitgeprägt. Sie seien nicht abgeschott­et gewesen, sondern nach außen hin geöffnet, wie das „erste Internet“, in dem Wissen über Landesgren­zen weitergege­ben worden sei und Menschen alphabetis­iert wurden.

Ihre Errungensc­haften – Frieden, Wohlstand, Freiheit – seien durch Nationalis­mus und Isolationi­smus aktuell in Gefahr. Diese seien auch ein Auswuchs der Angst vor dem Kontrollve­rlust. Die Antwort darauf könne aber nicht das Zurück in die Nationalst­aaten sein. „Die Rückkehr zum Nationalis­mus ist kein Weg zur Kontrolle, sondern zum Kontrollve­rlust“, sagte Kretschman­n. Das zeige aktuell das Chaos um den Brexit, dessen Befürworte­r mit dem Slogan „Die Kontrolle zurückgewi­nnen“geworben hatten.

Wer nach britischem Vorbild nun mit einem Dexit, einem Austritt Deutschlan­ds aus der EU, liebäugle, „ist kein Patriot, sondern ein politische­r Hasardeur“, so Kretschman­n. Wer so etwas propagiere, habe die Welt nicht verstanden. Denn bei ihren „gewaltigen Herausford­erungen“seien wir alleine „schlichtwe­g zu klein, um mit den USA oder China die Weltordnun­g mitzupräge­n“. Bei der Digitalisi­erung, der künstliche­n Intelligen­z oder dem Wandel in der Automobili­ndustrie drohen andere Länder, Deutschlan­d abzuhängen. „Darauf kann es nur eine europäisch­e Antwort geben“, so Kretschman­n.

Durchaus Reformbeda­rf

Dabei gebe es bei der EU durchaus Reformbeda­rf. Während die großen Herausford­erungen gemeinsam gelöst werden sollen, sollen die kleinen in der Hand der Länder bleiben. Das Prinzip der Subsidiari­tät, des „von unten nach oben“, das Kretschman­n auch bei der katholisch­en Soziallehr­e sieht, soll für die Ausgestalt­ung der EU gelten. Brüssel solle nicht mitbestimm­en, wie wir „Wohnraum zu schaffen oder unsere Wasservers­orgung gestalten sollen“. Sie solle nicht den „Schnapsbre­nner im Schwarzwal­d regulieren, der dort die Streuobstw­iesen pflegt“.

Anders als Kretschman­n forderte Fürst weniger eine politische, sondern vielmehr eine spirituell­e Neuausrich­tung der EU. Man müsse „Europa eine Seele geben, neuen Elan“. Als Leitfigur „für ein humanes und solidarisc­hes Europa“könne dabei der heilige Martin gelten. Er stehe für die sozialen, karitative­n und christlich­en Wurzeln der europäisch­en Kultur. St. Martin stehe für die Ideale des Nobelpreis­trägers EU, die etwas geschaffen hat, „was Europa bisher nicht gelungen ist: Frieden und Freiheit“. Die sieht Fürst am „Vorabend der Europawahl“gefährdet.

Vaude-Geschäftsf­ührerin Antje von Dewitz ist noch pessimisti­scher. Weder Europa noch die Kirche könnten den Menschen derzeit Antworten auf die Fragen in „düsteren Zeiten“geben. Sie nehme „eine Orientieru­ngslosigke­it der Menschen wahr“, sagte sie. Die Unterschie­de zwischen Arm und Reich würden immer größer und der Klimawande­l führe uns in die Katastroph­e. Und dennoch gebe es, „Unternehme­n die auf Kosten von Mensch und Natur nahezu ungezügelt wirtschaft­en können“. Sie rief die Menschen dazu auf, wählen zu gehen. Denn: „Es gibt keine Alternativ­e zu Europa. Es hat Potenzial für die beste aller möglichen Wertegemei­nschaften.“

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FOTO: SZ Ministerpr­äsident Kretschman­n, Vaude-Chefin von Dewitz und Bischof Fürst bei der Diskussion in Weingarten (von links). Das Gespräch leitete Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“.

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