Solo in Straßburg
Weil es keine Sperrklausel gibt, können auch Kleinparteien ins EU-Parlament einziehen
- So bunt ist kein Landtag und kaum ein Gemeinderat: 14 verschiedene Parteien teilen sich die 96 deutschen Sitze im Europaparlament. Diese Vielfalt hat das Bundesverfassungsgericht ermöglicht. Im Februar 2014, drei Monate vor der Europawahl, kippte es die vom Bundestag beschlossene Dreiprozenthürde. Plötzlich brauchte eine Partei nur knapp 0,6 Prozent der Stimmen für ein Mandat in Straßburg. Seitdem repräsentieren nicht mehr nur die im Bundestag vertretenen Parteien Deutschland auf europäischer Ebene. Sondern auch eine Piratin, ein Tierschützer, ein Rechtsextremist, ein Familien-Lobbyist, ein Öko-Demokrat und ein Spaßpolitiker. Und Ulrike Müller.
Müller, 56 Jahre, Milchbäuerin aus Missen-Wilhams im Oberallgäu, ist seit fünf Jahren die einzige Europaabgeordnete der Freien Wähler. Dennoch sagt sie: „Ich habe mich nie als Einzelkämpferin gefühlt.“Parteipolitische Solisten wie sie sind in Straßburg keine Ausnahme: Die 751 Sitze im Europaparlament verteilen sich auf 211 nationale Parteien. Wichtig sei es aber, sich einer Fraktion anzuschließen, berichtet Müller. Nur über eine Fraktion bekommen Abgeordnete Zugriff auf einen größeren Mitarbeiterstab und erhalten wichtige parlamentarische Funktionen, etwa als Berichterstatter für bestimmte Dossiers. Müller ist der liberalen ALDE-Fraktion beigetreten, dort sitzt sie neben drei Kollegen von der FDP.
Und auch als einzelne Abgeordnete könne sie durchaus etwas bewegen, betont Müller. Mehr noch: „Ich hätte nie gedacht, wie leicht es ist, Einfluss zu nehmen.“Viel leichter beispielsweise als im bayerischen Landtag, dem sie von 2008 bis 2014 angehörte, als die Freien Wähler dort noch in der Opposition waren. „Im Landtag, da schreibst du einen Antrag, von dem du denkst, dass die Staatsregierung das aufnehmen könnte. Und dann wird der automatisch abgelehnt, weil du in der Opposition bist“. Im Europaparlament sei das anders, erzählt Müller. „Eher wie im Gemeinderat.“
Richtig gut mitgestalten
Müller arbeitet im Umwelt- und im Landwirtschaftsausschuss. Die Düngemittelverordnung, Trinkwasserqualität, die Plastikrichtlinie – das sind ihre Themen. Jede Richtlinie und jede Verordnung der EU-Kommission geht ans Parlament, wo die Fraktionen dazu Stellung beziehen. Müller und ihre Mitarbeiter hören Betroffene an, wägen ab und stellen Änderungsanträge. Über diese stimmt das EU-Parlament ab. „Wenn bei einer Richtlinie von 60 Positionen am Ende 30 übernommen werden, dann zeigt das schon, dass man da richtig gut gestalten kann.“
Beispiel: die Überarbeitung der europäischen Trinkwasserrichtlinie. Ulrike Müller hält sich zugute, mit ihren Änderungsanträgen die kommunalen Wasserversorger in Deutschland vor zu teuren Auflagen und damit die Verbraucher vor zu hohen Kosten bewahrt zu haben. „Die entscheidende Abstimmung im Plenum haben wir mit einer Stimme Mehrheit gewonnen.“
Anders als im Bundestag gibt es im Europaparlament keine festgefügte Mehrheit. Zwar stimmen sich bei zentralen Fragen traditionell Konservative und Sozialisten miteinander ab, die Kooperation ist aber deutlich loser als etwa eine Regierungskoalition im Bundestag. Das eröffnet Einflussmöglichkeiten auch für die Vertreter der anderen Fraktionen. Ein weiterer Unterschied zum Bundestag: Der Fraktionszwang ist schwächer ausgeprägt, es kommt häufiger zu uneinheitlichem Abstimmungsverhalten auch innerhalb einer Fraktion. Beides stärkt die Stellung einzelner Abgeordneter.
Neue Hürde
Geht es nach Europas Staats- und Regierungschefs, soll es den Kleinparteien aber spätestens bei der übernächsten EU-Wahl 2024 schwerer gemacht werden, ein Mandat zu erringen. Die Runde hatte sich darauf geeinigt, über das EU-Wahlrecht in den größeren Staaten – gemeint sind jene, die mehr als 35 Abgeordnete im EU-Parlament stellen – eine verbindliche Hürde in Höhe von mindestens zwei und höchstens fünf Prozent einzuführen. Das betrifft Deutschland und Spanien, die anderen größeren Staaten haben bereits eine solche Regelung. Angesichts des Verfassungsgerichtsurteils, das die früheren deutschen Vorgaben für nichtig erklärt hatte, rechnet Ulrike Müller für Deutschland mit einer Sperrklausel von „zwei bis zweieinhalb Prozent“.
Das würde, bei gleichbleibenden Wahlergebnissen, unter anderem dem Satiriker Martin Sonneborn und auch der rechtsextremen NPD die Rückkehr nach Europa verbauen. Die Freien Wähler, die sich durch die Regierungsbeteiligung in Bayern ohnehin im Aufschwung sehen, haben da weniger Bedenken. „Unser Ziel sind drei Prozent deutschlandweit“, sagt Ulrike Müller. Das würde für drei Mandate reichen, vielleicht sogar für vier. Dass sie dann nicht mehr die Einzige ihrer Art wäre, die einzige Vertreterin der Freien Wähler in Europa, damit kann Ulrike Müller bestens leben.