Merkel sollte für Klarheit sorgen
Ein Blick in die digitalen Medien reicht, um den Umfang der Häme und Niedertracht zu ermessen, der auf die Bundeskanzlerin niederprasselt. Dazu kommen Ärzte verschiedenster Fachrichtungen, die sich der eigenen PR willen erdreisten, per Ferndiagnose den subjektiv ermittelten Krankheitsbefund der Öffentlichkeit kundzutun, obgleich sie Angela Merkel noch nie persönlich gesehen oder gar untersucht haben.
Natürlich ist es außergewöhnlich, wenn eine Regierungschefin beim Empfang einer Kollegin bei den Nationalhymnen sitzt und nicht steht. Dass die Kanzlerin zuvor drei Zitterattacken bei ähnlichen Ereignissen hat über sich ergehen lassen müssen, sind Umstände, die die Spekulationen anheizen, obgleich der persönliche Gesundheitszustand eines Menschen Privatsache und auch Teil der ärztlichen Schweigepflicht ist. Aber es handelt sich bei Merkel nicht um die Nachbarin um die Ecke, sondern um die deutsche Bundeskanzlerin, die vom US-Magazin „Forbes“siebenmal in Folge zur mächtigsten Frau der Welt ausgerufen wurde.
Merkel, die bei kniffligen Fragen emotionsfrei die Dinge vom Ende her denkt, sollte deshalb ihre Taktik überprüfen, sich nur vage über ihre Gesundheit zu äußern. So sie diese Linie weiterverfolgt, werden die Mutmaßungen über sie deutlich zunehmen. Hingegen wird das Vertrauen in ihre physische Fähigkeit, das ausgesprochen fordernde Amt weiter ausüben zu können, erheblich sinken.
Die Große Koalition ist aus verschiedenen Gründen in einem fragilen Zustand. Die Kanzlerin hat mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden versucht, die Weichen für ihre Nachfolge zu stellen. Selbst Merkel-Gegner wissen, dass sie die Physikerin aufgrund ihrer strategischen und politischen Fähigkeiten nicht unterschätzen dürfen. Ihre eigene Gesundheit hatte Merkel bislang offensichtlich nicht auf ihrer Rechnung. So übergriffig der Wunsch nach Klarheit auch zu scheinen vermag, für die Bevölkerung, die von Merkel regiert wird, ist er legitim.