Keine Knochen, keine Urnen
Im Vatikan gib es weiterhin keine Spur der vermissten Emanuela Orlandi
ROM - Auch am Donnerstag konnte das Geheimnis um Emanuela Orlandi nicht gelüftet werden. Eine Geschichte, die 1983 begann, als am 22. Juni die damals 15-jährige Tochter eines Vatikanangestellten auf dem Weg zum Musikunterricht mitten in Rom entführt wurden. Es handelt sich bei dieser Entführung um einen der rätselhaftesten Kriminalfälle der italienischen Nachkriegsgeschichte, viele internationale Verschwörungstheorien ranken sich um ihn.
Im Sommer 2018 erhielt die Anwältin der Familie Orlandi einen anonymen Brief, in dem von einer Marmorstatue auf dem Campo Santo Teutonico, dem deutschen Friedhof im Vatikan, die Rede war. Im Brief stand geschrieben: „Schaut, wohin der Engel schaut“. Nach anfänglichem Zögern war der Vatikan kooperationsbereit und gestattete Donnerstagvormittag die Öffnung jener zwei Gräber, die von dem Marmorengel angeschaut werden. Zwei Gräber, in denen vor mehr als 150 Jahren zwei deutsche Hochadlige ihre letzte Ruhe fanden: die 1840 verstorbene Herzogin Charlotte Friederike zu Mecklenburg und die 1836 verstorbene Prinzessin Sophie von Hohenlohe.
Die Anwesenden auf dem deutschen Friedhof, darunter auch Pietro Orlandi, der Bruder entführten Emanuela, staunten, als leere Gräber vorgefunden wurden. Ohne Knochen und ohne Urnen. Die Familien der beiden adligen Damen wurden noch am Donnerstag benachrichtigt. Jetzt daarf weiter darüber gerätselt werden, was aus Emanuela Orlandi geworden ist.
Immer wieder taucht ihr Name auf, wenn es um Geheimnisse des Kirchenstaates geht. Sie sei in den Händen von Mafiosi, heißt es immer wieder, weil die verhindern wollten, dass ihre schmutzigen Geldgeschäfte über die Vatikanbank enthüllt werden. Dann heißt es wieder, sie werde von den Hintermännern des Papstattentäters festgehalten. Andere behaupteten, Hinweise dafür zu haben, dass Freunde des ehemaligen Erzbischofs Paul Marcinkus, der als Chef der Vatikanbank IOR mit Kriminellen der römischen Banda Magliana und der sizilianischen Cosa Nostra unter einer Decke gesteckt haben soll, das Mädchen beseitigt hätten.
Die Polizei ging 1983 zunächst von einem Sexualverbrechen aus. Doch dann kam es zu Telefonaten, die den Vatikan und die italienische Polizei aufschreckten. Einige Tage nach dem Verschwinden des Mädchens rief ein Mann im Pressesaal des Vatikans an und behauptete, Emanuela bei sich zu haben. Er sprach von einer Entführung und schlug einen Tauschhandel vor gegen die Freilassung von Mehmet Ali Agca, dem damals noch in italienischer Haft einsitzenden Türken, der am 13. Mai 1981 versucht hatte, Papst Johannes Paul II. zu erschießen. Es wird vermutet, dass Ali Agca, ein Anhänger der rechtsextremen türkischen Organisation Graue Wölfe, vom russischen KGB damit beauftragt wurde, den für die Kommunisten in Moskau unbequemen Polen zu beseitigen. Der Verdacht, dass die Hintermänner des Papstattentäters Emanuela Orlandi entführt hätten, um den Terroristen freizubekommen, hielt sich lange.
„Im Entführungsfall meiner Schwester erwies sich der Heilige Stuhl als nicht gerade hilfsbereit“, erklärte Pietro Orlandi vor einigen Tagen in einem Interview. „Ich habe Alia Agca 2010 in Istanbul getroffen, als er aus dem Gefängnis freikam. Er sagte mir, dass vatikaninterne Personen meine Schwester entführt hätten, und er riet mir diesbezüglich mit Kardinal Giovanni Battista Re zu sprechen, er wisse alles, so Ali Agca, er könne mir helfen“.
Doch der Kardinal äußerte sich nie zum Fall Orlandi. Wie überhaupt alle Verantwortlichen im Kirchenstaat zu dem Verschwinden des Mädchens schweigen. Bis heute. Man bete für Emanuela, heißt es immer wieder. Papst Franziskus erklärte vor einigen Monaten, dass Emanuela im Himmel sei.
2016 archivierte die römische Staatsanwaltschaft den Fall Orlandi. Vor Kurzem wurde der Fall allerdings wieder aufgenommen. Denn es gibt neue Hinweise und Indizien. Italienische Staatsanwälte würden deshalb nur zu gern vatikanische Dokumente aus den 80er-Jahren einsehen. Doch dafür erhielten sie bisher keine Genehmigung.