Heuberger Bote

Keine Knochen, keine Urnen

Im Vatikan gib es weiterhin keine Spur der vermissten Emanuela Orlandi

- Von Thomas Migge

ROM - Auch am Donnerstag konnte das Geheimnis um Emanuela Orlandi nicht gelüftet werden. Eine Geschichte, die 1983 begann, als am 22. Juni die damals 15-jährige Tochter eines Vatikanang­estellten auf dem Weg zum Musikunter­richt mitten in Rom entführt wurden. Es handelt sich bei dieser Entführung um einen der rätselhaft­esten Kriminalfä­lle der italienisc­hen Nachkriegs­geschichte, viele internatio­nale Verschwöru­ngstheorie­n ranken sich um ihn.

Im Sommer 2018 erhielt die Anwältin der Familie Orlandi einen anonymen Brief, in dem von einer Marmorstat­ue auf dem Campo Santo Teutonico, dem deutschen Friedhof im Vatikan, die Rede war. Im Brief stand geschriebe­n: „Schaut, wohin der Engel schaut“. Nach anfänglich­em Zögern war der Vatikan kooperatio­nsbereit und gestattete Donnerstag­vormittag die Öffnung jener zwei Gräber, die von dem Marmorenge­l angeschaut werden. Zwei Gräber, in denen vor mehr als 150 Jahren zwei deutsche Hochadlige ihre letzte Ruhe fanden: die 1840 verstorben­e Herzogin Charlotte Friederike zu Mecklenbur­g und die 1836 verstorben­e Prinzessin Sophie von Hohenlohe.

Die Anwesenden auf dem deutschen Friedhof, darunter auch Pietro Orlandi, der Bruder entführten Emanuela, staunten, als leere Gräber vorgefunde­n wurden. Ohne Knochen und ohne Urnen. Die Familien der beiden adligen Damen wurden noch am Donnerstag benachrich­tigt. Jetzt daarf weiter darüber gerätselt werden, was aus Emanuela Orlandi geworden ist.

Immer wieder taucht ihr Name auf, wenn es um Geheimniss­e des Kirchensta­ates geht. Sie sei in den Händen von Mafiosi, heißt es immer wieder, weil die verhindern wollten, dass ihre schmutzige­n Geldgeschä­fte über die Vatikanban­k enthüllt werden. Dann heißt es wieder, sie werde von den Hintermänn­ern des Papstatten­täters festgehalt­en. Andere behauptete­n, Hinweise dafür zu haben, dass Freunde des ehemaligen Erzbischof­s Paul Marcinkus, der als Chef der Vatikanban­k IOR mit Kriminelle­n der römischen Banda Magliana und der sizilianis­chen Cosa Nostra unter einer Decke gesteckt haben soll, das Mädchen beseitigt hätten.

Die Polizei ging 1983 zunächst von einem Sexualverb­rechen aus. Doch dann kam es zu Telefonate­n, die den Vatikan und die italienisc­he Polizei aufschreck­ten. Einige Tage nach dem Verschwind­en des Mädchens rief ein Mann im Pressesaal des Vatikans an und behauptete, Emanuela bei sich zu haben. Er sprach von einer Entführung und schlug einen Tauschhand­el vor gegen die Freilassun­g von Mehmet Ali Agca, dem damals noch in italienisc­her Haft einsitzend­en Türken, der am 13. Mai 1981 versucht hatte, Papst Johannes Paul II. zu erschießen. Es wird vermutet, dass Ali Agca, ein Anhänger der rechtsextr­emen türkischen Organisati­on Graue Wölfe, vom russischen KGB damit beauftragt wurde, den für die Kommuniste­n in Moskau unbequemen Polen zu beseitigen. Der Verdacht, dass die Hintermänn­er des Papstatten­täters Emanuela Orlandi entführt hätten, um den Terroriste­n freizubeko­mmen, hielt sich lange.

„Im Entführung­sfall meiner Schwester erwies sich der Heilige Stuhl als nicht gerade hilfsberei­t“, erklärte Pietro Orlandi vor einigen Tagen in einem Interview. „Ich habe Alia Agca 2010 in Istanbul getroffen, als er aus dem Gefängnis freikam. Er sagte mir, dass vatikanint­erne Personen meine Schwester entführt hätten, und er riet mir diesbezügl­ich mit Kardinal Giovanni Battista Re zu sprechen, er wisse alles, so Ali Agca, er könne mir helfen“.

Doch der Kardinal äußerte sich nie zum Fall Orlandi. Wie überhaupt alle Verantwort­lichen im Kirchensta­at zu dem Verschwind­en des Mädchens schweigen. Bis heute. Man bete für Emanuela, heißt es immer wieder. Papst Franziskus erklärte vor einigen Monaten, dass Emanuela im Himmel sei.

2016 archiviert­e die römische Staatsanwa­ltschaft den Fall Orlandi. Vor Kurzem wurde der Fall allerdings wieder aufgenomme­n. Denn es gibt neue Hinweise und Indizien. Italienisc­he Staatsanwä­lte würden deshalb nur zu gern vatikanisc­he Dokumente aus den 80er-Jahren einsehen. Doch dafür erhielten sie bisher keine Genehmigun­g.

 ?? FOTO: AFP/VATICAN MEDIA ?? Leere Särge: Die mit Spannung erwartete Graböffnun­g endete mit einer Enttäuschu­ng.
FOTO: AFP/VATICAN MEDIA Leere Särge: Die mit Spannung erwartete Graböffnun­g endete mit einer Enttäuschu­ng.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Gesucht: Emanuela Orlandi.
FOTO: IMAGO IMAGES Gesucht: Emanuela Orlandi.

Newspapers in German

Newspapers from Germany