Das Geld kam aus der Schweiz
Wie sich der Bodenseeraum in der Neuzeit wirtschaftlich entwickelte, beleuchtet eine Tagung in Bad Waldsee
BAD WALDSEE - Wie haben die Menschen vor 300 Jahren gelebt und wovon? Wie haben sie ihr Auskommen gefunden? Die Wirtschaftsgeschichte von 1600 bis 1850 beleuchtet bis Samstag eine wissenschaftliche Tagung in Bad Waldsee. Die Gesellschaft Oberschwaben lädt damit schon zum zweiten Mal namhafte Kenner der Regionalgeschichte ein, um allgemeine wirtschaftshistorische Prozesse in der Region zu untersuchen. Bei der vorangegangenen Tagung wurde der Zeitraum von 1300 bis 1600 untersucht. Nun geht es um die Zeit vom 30-jährigen Krieg, über das Ende des Alten Reiches bis zum Wiederaufbau nach den napoleonischen Kriegen.
Sigrid Hirbodian, die den Lehrstuhl für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Tübingen innehat, erläuterte zu Beginn den Ansatz der Tagung: „Wir wollen versuchen, in der Region die Welt zu fassen.“
Unter den Oberbegriffen „Umwelt, Energie, Strukturwandel“, „Gewerbe und Handel“, „Wirtschaftliche Akteure“werden in den zweieinhalb Tagen 18 Vorträge gehalten. Ein sportliches Programm.
Den Auftakt am Donnerstagmorgen machte Elmar L. Kuhn, einer der Gründerväter der Gesellschaft Oberschwaben und herausragender Vertreter einer modernen Regionalgeschichtsforschung. In einem wahren Parforceritt ging es durch die Wirtschaftsgeschichte der Region Bodensee, also Oberschwaben, Nordostschweiz und Vorarlberg. Zwar setzte Kuhn ein Fragezeichen hinter die „Wirtschaftsregion Bodensee“, aber er zeigte dann doch auf, wie stark Oberschwaben und Vorarlberg mit der Eidgenossenschaft in der Neuzeit wirtschaftlich verflochten waren. Aufgelöst hat sich dieses Band eigentlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die Vernetzung macht Kuhn an den „Leitsektoren“Landwirtschaft, Leinwand, Baumwolle, Stickerei und Maschinenbau deutlich. Oberschwaben entwickelte sich in der frühen Neuzeit zum Getreidelieferanten für die Nordostschweiz und Vorarlberg. Das führte dazu, dass sich die Bauern dort immer mehr vom Ackerbau zurückzogen und vermehrt auf Viehwirtschaft umstiegen. „Steigende Preise ermöglichten den Erhalt der Landwirtschaft in Oberschwaben.“Das System kollabierte um 1890, als durch den Schiffsverkehr und den Eisenbahnbau billigeres Getreide aus den USA nach Europa kam. Es mussten neue Absatzmärkte gefunden werden.
Beim Blick in die Geschichte wird immer wieder deutlich, dass weder Klimaveränderung noch Globalisierung moderne Phänomene sind. Das lässt sich auch an der Textilwirtschaft ablesen. Die meisten Bauern – ob im Thurgau, Bregenzer Wald oder in Oberschwaben – konnten nicht allein von ihren Höfen leben. Das war zwar aufgrund des bäuerlichen Eigentumsrechts in einigen Teilräumen unterschiedlich, aber der Nebenerwerb war für die Menschen überlebenswichtig. Sie begannen Flachs, Leinwand und Baumwolle zu verarbeiten. Sie verdienten sich etwas dazu mit Weben, Spinnen, später Sticken.
Nicht nur die Absatzmärkte, auch die Rohstofflieferungen veränderten sich permanent. Und dann immer die Kriege: Der 30-jährige Krieg habe die Produktion und den Handel der Leinwand in Oberschwaben fast zum Erliegen gebracht, sagt Kuhn. „Den Nutzen daraus zog die Ostschweiz. Die Schweizer Kaufleute verdrängten die meisten oberschwäbischen Handelshäuser.“
Die Stoffe wurden in Oberschwaben oder Vorarlberg gewoben oder bestickt, später auch maschinell. Aber gehandelt haben damit die Schweizer mit Zentrum St. Gallen. Sie konnten Kapital akkumulieren und haben dieses dann hier wieder eingesetzt.
Der entscheidende Impuls für die Industrialisierung Oberschwabens kam also durch Schweizer Geld. Escher-Wyss in Ravensburg (1857) oder die Stahlwerke Georg Fischer in Singen (1895) waren Schweizer Gründungen. Wie kommt es, dass die Schweizer Kapital bilden konnten, während das offensichtlich in Oberschwaben und auch Vorarlberg nicht möglich war? Da verweist Kuhn unter anderem auf die Kriege: Die Schweiz hat keine geführt und deswegen „unproduktive Rüstungsausgaben“verhindert. „Und in Oberschwaben konnte kein Kapital akkumuliert werden, weil Webereien und Spinnereien für Schweizer Firmen gearbeitet haben.“Aber auch von den anderen Akteuren im Wirtschaftsraum Oberschwaben war keine Kapitalspritze zu erwarten, wie bei der Diskussion deutlich wurde. „Der Adel war um 1800 pleite,“erklärt Kuhn. Nach der Umwandlung seines Lehnguts in eigenen Besitz habe er in Land und „Prestigekonsum“(Edwin Ernst Weber) investiert. „Und die Klöster haben alles Geld in Bauten gesteckt“, ergänzt Peter Eitel.
„Die Schweiz konnte auch deswegen Kapital akkumulieren, weil sie keine unproduktiven Rüstungsausgaben hatte.“Elmar L. Kuhn