Brügge sehen und ein bisschen bleiben
Auf der Suche nach lauschigen Momenten in dieser allzu populären belgischen Stadt
ie großen Schönheiten unter den Städten haben ja oft dieses Problem: Die Verehrer stören. Brügge in Westflandern, Weltkulturerbe, wird an Wochenenden und Ferientagen zum Rummelplatz internationaler Touristen. Busund Kreuzfahrtgruppen (Fluss und Meer sind nah) blockieren Brücken und Gassen, stehen Schlange für eine Grachtenfahrt, versperren die Aussicht auf das gotische Rathaus. Sie kaufen massenhaft cremige Pralinen und viel zu süße Waffeln, das belgische Bier fließt in Strömen. Wahre Liebhaber warten ab, bis sich das Gewimmel am späten Nachmittag verzieht und der wahre Zauber zum Vorschein kommt: das stille, alte Brügge.
Rund 8,3 Millionen Besucher wurden im vergangenen Jahr gezählt: Das ist absoluter Rekord. Bei aller Liebe zum Geschäft – selbst dem Brügger Tourismusbüro ist dieses Treiben manchmal doch etwas zu bunt. Man möchte nämlich die Aufmerksamkeit anspruchsvoller Kulturtouristen nicht verlieren und präsentiert sich als Stadt der Kunst und europäischen Geschichte. Brügge sehen und ein bisschen bleiben – das lohnt sich für alle, die mehr erleben wollen als Souvenirläden und die Spaßmuseen für Pommes, Bier und Schokolade.
Überall ist Geschichte
Das Flair von Brügge kommt aus tiefer Vergangenheit. Überall ist Geschichte, man muss sich darauf einlassen, sogar die Hotels sind davon geprägt. Wir dürfen im Dukes’ Palace übernachten, dem einstigen Prinzenhof, einem burgundischen Palast aus Brügges goldener Zeit. Hier feierte Herzog Philipp der Gute 1430 die Hochzeit mit seiner dritten Frau, Isabella von Portugal. Zur Sicherheit hatte er zuvor seinen Hofmaler Jan van Eyck nach Lissabon geschickt, um die mit 31 Jahren nicht mehr ganz junge Braut zu porträtieren. Dies Bildnis, lange verschollen, war (nach damaligem Geschmack) bezaubernd schön und die Ehe politisch gesegnet. Isabella gebar dem Herzog drei Söhne, darunter den späteren Thronfolger, Karl den Kühnen.
Karls liebliche Tochter Maria von Burgund (1457-82) starb viel zu früh nach einem Reitunfall. Das Volk trauerte heftig um sie, mochte aber ihren Witwer, den Habsburger Maximilian, so gar nicht. Als er 1488 neue Steuern einführen wollte, sperrte man ihn spontan am Grote Markt ein. Durch das vergitterte Fenster musste er mit ansehen, wie sein getreuer Vogt Pieter Lankhals auf dem Marktplatz gefoltert und enthauptet wurde – genau dort, wo heute die Rundfahrt-Kutschen mit den müden Pferden auf zahlende Kundschaft warten.
Dass die Bürger sich trauten, einen österreichischen Erzherzog und römisch-deutschen König (und späteren Kaiser) ins Gefängnis zu werfen, zeugt von ihrem Selbstbewusstsein. Kaufleute und Unternehmer beteiligten sich stets leidenschaftlich am Game of Thrones nach Brügger Art. Anselm Adornes (1424-1483) zum Beispiel, schwerreicher Spross einer italienischstämmigen Kaufmannsfamilie, führendes Mitglied im Orden des Weißen Bären, Veranstalter dramatischer Ritterturniere, Bürgermeister mit globalen Beziehungen, Busenfreund des schottischen Königs, baute neben seinem Herrenhaus sogar eine eigene Kirche in Brügge, die orientalisch anmutende Jerusalemkapelle. Zur weiteren Stärkung seines Seelenheils stiftete er dahinter ein paar Reihenhäuser für arme Witwen, die von seinem Nachfahren Maximilien von Limburg Stirum zu einem kleinen Museum mit Garten und Tee-Lounge ausgebaut wurden. Wir genießen den etwa halbstündigen Spaziergang in das ruhige St.-Anna-Viertel und lauschen den Geschichten des Guides Johan, der auch von Anselms bitterem Ende zu berichten weiß. Nach einem Karriereknick wurde er in Schottland ermordet, nur sein Herz konnte nach damaliger Sitte zurückgeführt und in seiner Kirche bestattet werden. Wir stehen seltsam berührt vor den Sarkophagen mit den Liegefiguren von Anselm und seiner Gattin Margriet, die ihm 16 Kinder geboren hatte. Zu seinen Füßen liegt ein Löwe, zu ihren ein Hund, Zeichen der Treue.
Auch Anselms adeliger Kollege Ludwig von Brügge (1427-1492), Ritter, Diplomat, Kammerherr am burgundischen Hof und Top-Businessmann, sollte nicht glücklich enden. Weil er sich mit Maximilian überworfen hatte, verbrachte Ludwig als älterer Herr drei Jahre als Verräter in Haft, sein Besitz wurde beschlagnahmt. Das lohnte sich, denn die Familie war reich. Man nannte Ludwig auch von Gruuthuse, weil die Familie das Monopol auf Grut hatte, eine für die Bierherstellung nötige Kräutermischung. Später durften die Herrschaften zudem Steuern auf den Verkauf von Bier erheben, ein einträgliches Geschäft.
Wiedereröffnung mit Party
Zum Ausgleich für den schnöden Gelderwerb sammelte Ludwig gute Bücher und pflegte die Künste. Sein Wahlspruch war: „Plus est en vous“– frei übersetzt: Es steckt mehr in euch, als ihr denkt. Der Spruch steht in Stein gemeißelt über dem Portal von Ludwigs Stadtpalais, dem heutigen Gruuthuse-Museum. Und er wurde zum Motto für das neue Konzept des Hauses, das nach fünfjähriger Sanierung mit einer großen Party wiedereröffnet wurde. 600 Sammlungsstücke – vom Wandteppich bis zum feinsten Porzellan – erzählen von Politik, Wirtschaft, Kunst und Lifestyle in Brügge vom 15. bis zum frühen 20. Jahrhundert.
Die ruhigen Stunden Brügges
Damit auch Geschichtsmuffel sich interessieren, gibt’s ein paar interaktive Tricks. Man kann zum Beispiel an Schnupperstationen den Duft von Kaffee, Schokolade und Tabak einatmen, lustige Perücken anprobieren oder an Touchscreens digitale Schiffchen mit den Luxuslasten der goldenen Brügger Zeiten beladen: Stoffe, Juwelen, Kunstwerke, Waffen. Über den Fluss Reie und einen durch eine Sturmflut entstandenen Meeresarm, den sogenannten Zwin, war die Stadt vom 13. bis weit ins 15. Jahrhundert gewinnbringend mit der See und der Welt verbunden.
Dann versandete der Zwin, der burgundische Hof zog sich zurück, die Geschäfte erlahmten, und der Niedergang begann. Die Melancholie im verlassenen Brügge wurde jedoch im 19. Jahrhundert als romantisch und reizvoll empfunden. Der Tourismus begann – und damit Brügges neues goldenes Zeitalter. Vom Belvedere des Gruuthuse-Museums sieht man, was gemeint ist: Über ein Brückchen hinter verwinkelten Häusern drängen die Besucher, von rechts naht ein Ausflugsboot.
Aber es gibt sie, die ruhigen Stunden: An einem Mittwoch, 9.30 Uhr, drängeln sich keine Gruppen wartend am Eingang des Groeninge-Museums, wo in noch unrenovierten Sälen an grauen Stellwänden die berückendsten Meisterwerke hängen: Jan van Eycks „Madonna des Chorherren Joris van der Paele“, 1436 gemalt, mit Frömmigkeit und Brügger Prachtstoffen, oder das strenge Porträt von Jans schmallippiger Gattin Margareta mit ihren spitzen Haarschnecken unter der Haube (1439). Genug der alten Kunst? Na gut, dann kaufen wir uns jetzt endlich eine dieser viel zu süßen belgischen Waffeln. Aber bitte met slagroom, mit Sahne!