Heuberger Bote

Die Kanzlerin sitzt und schweigt

Vincent Lambert wurde im Wachkoma zur Symbolfigu­r für den Streit um Sterbehilf­e

- Von Christine Longin

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hat Konsequenz­en aus ihren Zitteranfä­llen bei den Empfängen der vergangene­n Wochen gezogen: Bei der Begrüßung der dänischen Ministerpr­äsidentin Mette Frederikse­n (Foto: AFP) saß die 64-Jährige gestern erstmals beim Abspielen der Nationalhy­mnen. Nach dieser ungewöhnli­chen Szene gab Merkel später in der Pressekonf­erenz keine klare Antwort auf die Frage, ob sie einen Arzt aufgesucht habe.

PARIS - Jahrelang hatte Frankreich auf das Krankenbet­t in der Universitä­tsklinik Reims geschaut, in dem der bekanntest­e Patient des Landes lag. Vincent Lambert, ein bärtiger junger Mann mit ausdrucksl­osem Blick, der seit einem Motorradun­fall vor mehr als zehn Jahren in einer Art Wachkoma lag. Am Donnerstag um 8.24 Uhr starb der 42-Jährige. Endlich, wie seine Frau Rachel und ein großer Teil seiner Familie denken.

Jahrelang hatten sich die Angehörige­n für den Tod von Vincent Lambert eingesetzt. Der frühere Krankenpfl­eger soll vor seinem Unfall mehrmals gesagt haben, dass er kein Dauerpfleg­efall werden wolle. Schriftlic­h hatte der Vater einer Tochter aber nichts hinterlass­en, sodass sein Schicksal zu einem beispiello­sen juristisch­en Krieg zwischen seiner Frau, die die Vormundsch­aft hatte, und seiner Mutter wurde. Die traditiona­listisch-katholisch­e Viviane Lambert und ihr Mann Pierre sahen in ihrem Sohn einen Schwerbehi­nderten, der reagiere und ein Recht auf Leben habe – auch wenn erst im November ein Expertengr­emium den „chronische­n und irreversib­len“vegetative­n Zustand des Patienten festgestel­lt hatte. Lebensrech­tsbewegung­en unterstütz­ten ihren Kampf für eine Fortsetzun­g der Behandlung, der sie durch 35 Prozesse führte.

„Das ist für uns eine Erleichter­ung. Es herrscht keine Traurigkei­t“, sagte hingegen Lamberts Neffe François nach dem Tod seines Onkels. Er hatte sich für dessen Recht auf einen würdigen Tod eingesetzt, das seit 2016 in Frankreich in einem Gesetz verankert ist. „Die Behandlung muss nicht mit allen Mitteln fortgesetz­t werden. Wenn sie unnütz oder unangemess­en erscheint, darf sie beendet werden“, heißt es in dem Text, der den Namen des konservati­ven Abgeordnet­en und Arztes Jean Leonetti trägt und jährlich bei rund 80 000 Patienten angewendet wird. In hoffnungsl­osen Fällen wird nach Absprache mit der Familie die künstliche Ernährung eingestell­t und der Patient sediert, bis er stirbt. Das wollte auch Rachel Lambert, ebenfalls Krankensch­wester, für ihren im Koma liegenden Mann. Jahrelang hatte die blasse, ausgezehrt wirkende Frau mit Vincent Untersuchu­ngen und Therapien gemacht, um zu dem Schluss zu kommen, dass ihrem Mann nicht mehr zu helfen ist. 2016 veröffentl­ichte sie ein Buch, dessen Titel ihre Einstellun­g verrät: „Vincent – Weil ich ihn liebe, will ich ihn gehen lassen.“

Dreimal Ernährung eingestell­t

Gehen konnte ihr Mann allerdings erst, nachdem die Eltern alle juristisch­en Möglichkei­ten bis hin zum Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte ausgeschöp­ft hatten. Viviane und Pierre Lambert machten auch noch weiter, als die Ärzte schon die Geräte am Bett des berühmten Patienten abgeschalt­et und die Ernährung eingestell­t hatten. Dreimal war das der Fall, zuletzt im Mai. Damals dauerte der Sterbeproz­ess nur wenige Stunden, bevor ihn das Pariser Berufungsg­ericht auf Initiative der Eltern wieder beendete. Unterstütz­ung bekam das Paar in jener Zeit vom Papst, der forderte, „nicht der Kultur des Wegwerfens“nachzugebe­n. Doch das oberste Gericht, von der Regierung als letzte Instanz angerufen, erklärte das Pariser Berufungsg­ericht für nicht zuständig. Am 2. Juli stellten die Ärzte die künstliche Ernährung des Patienten ein, wenige Tage später gaben die Eltern ihren Kampf auf. „Dieses Mal ist es vorbei“, schrieben sie in einem Brief.

In den vergangene­n Tagen wechselten sich die verfeindet­en Lager stundenwei­se am Bett des Schwerkran­ken ab, der zur Symbolfigu­r für den Streit um die Sterbehilf­e in Frankreich wurde. Das Uni-Klinikum hatte extra getrennte Besuchssch­ichten geschaffen, damit sich die Mutter, die von zwei Geschwiste­rn unterstütz­t wird, und die Frau, die sechs Geschwiste­r auf ihrer Seite weiß, nicht über den Weg laufen.

Der Familienkr­ieg wird nach dem Tod des Komapatien­ten weitergehe­n. Die Eltern reichten bereits Klage gegen den behandelnd­en Arzt Vincent Sanchez wegen „vorsätzlic­her Tötung“ein. Der Leichnam muss nun obduziert werden, um zu sehen, ob der Patient eine verbotene tödliche Injektion erhielt. Auch wenn es dafür keine Anzeichen gibt: Für die Eltern ist der Tod ihres Sohnes in jedem Fall Mord. „Vincent wurde getötet durch die Staatsräso­n und einen Arzt, der auf seinen hippokrati­schen Eid verzichtet hat“, erklärten sie. Das vergiftete Klima dürfte auch die Beerdigung Lamberts begleiten. Sie soll im kleinen Kreis stattfinde­n, wie François Lambert ankündigte. „Ich hoffe, sie wird würdig sein.“

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FOTO: DPA Eine Familie, zerbrochen im Streit: Viviane und Pierre Lambert (links) führten 35 Prozesse gegen das Ansinnen, die künstliche Ernährung ihres Sohnes Vincent Lambert einzustell­en. Ehefrau Rachel (rechts) war dafür.
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