„Menschen sind unheimlich verführbar, schreckliche Dinge zu tun“
Der Ulmer Trauma-Experte Jörg Fegert über Vergewaltigungen durch Jugendliche, fehlende Hilfen für missbrauchte Kinder und was Eltern beherzigen sollten
ULM - Eine junge Frau wird in Mülheim an der Ruhr von Kindern und Jugendlichen vergewaltigt. In Lügde werden Kinder über viele Jahre auf einem Campingplatz schwer misshandelt. In Freiburg stehen derzeit ebenfalls teils Minderjährige wegen einer mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung vor Gericht. Diese Taten schockieren. Und sie werfen Fragen auf nach den Motiven der jungen Täter, nach dem Leid der Opfer und wie es sich lindern lässt. Und auch danach, was Einrichtungen und Eltern in solchen dramatischen Fällen womöglich versäumt haben, was hätte getan werden können. Dirk Grupe hat darüber mit Jörg Fegert gesprochen, der zu den führenden Psychiatern auf dem Gebiet traumatisierter Kinder und Jugendlicher zählt.
Herr Fegert, wie kommt es zu sexueller Gewalt durch Kinder?
Sexuelle Gewalt durch Kinder und Jugendliche ist auch für uns Fachleute ein schwieriges Thema. Wir haben einerseits jugendliche Täter, die sehr früh die Übergriffe auf deutlich jüngere Kinder machen, und die sich vielleicht in Richtung pädophile Täterschaft entwickeln. Die sind eher Einzeltäter.
Anders als bei dem Vorfall in Mülheim an der Ruhr ...
Bei Fällen wie diesem spielt die Gruppendynamik eine große Rolle, es entsteht der Druck, mitzumachen. Da gibt es meistens einen Rädelsführer, der die anderen aufpeitscht. Es geht sehr viel mehr um eine Machtdemonstration, als um ein sexuell motiviertes Geschehen. Außerdem beobachten wir in den letzten Jahren bei diesen Taten, dass sie fast alle per Video aufgezeichnet werden.
Mit welcher Wirkung?
Die Aufzeichnung per Video verstärkt zuallererst einmal die Demütigung für das Opfer. Wenn die Aufnahmen auch noch ins Netz gestellt werden, sind sie quasi nie mehr zu entfernen. Das hat nochmals eine ganz andere beschämende Dimension für die Betroffenen. Und von der Täterseite verstärkt sich dadurch auch der Zwang zum Mitmachen, weil keiner vor den anderen „weniger heldenhaft“aussehen will.
Man fragt sich trotzdem, wie Kinder und Jugendliche überhaupt auf die Idee zu sexuellen Gewalttaten kommen?
Sie sind heutzutage genauso schüchtern, wie wir es waren, als wir jung waren. Fast alle männlichen Jugendliche haben aber oft, bevor sie überhaupt den ersten Kuss mit einem Mädchen hatten, schon Sexualitätsdarstellungen und Gewaltpornografie im Internet gesehen, die völlig verzerrt sind. Über diese Video-Vorbilder von männlicher sexueller Gewalt werden zuerst Erwartungen gewelches schürt – und dann teilweise im Gruppenkontext auch umgesetzt. Dann entsteht Dominanz in einer Jungsgruppe, in der sich jeder zu beweisen sucht und auch noch versucht, grausamer zu sein.
Das sind fürchterliche Taten ...
Die Taten sind ganz schlimm. Aber wir sind als Menschen in Gruppen unheimlich verführbar, schreckliche Dinge zu machen. Sehen Sie sich zum Beispiel eine Horde junger Kerle an, die sich besoffen haben bei einem Fußballspiel – wie viel Unsinn in solchen Situationen entsteht. Erinnern wir uns an die kollektive Situation von Gruppengewalt in der Nazi-Zeit, wozu Menschen fähig waren, wenn andere das auch tun und wenn man sich anderen beweisen will. Gruppengewalt ist kein neues Phänomen.
Sie haben aber auch von Rädelsführern gesprochen ...
Manche dieser Rädelsführer zeichnen sich durch ein Macht- und Dominanzgehabe in ihrer Gruppe aus und haben gleichzeitig Angst vor Ausgrenzung oder Herabsetzung oder sind schon aus schulischen Bezügen herausgefallen. Es geht bei diesen Taten sehr viel um Dominanz, um Aggression, um Macht. Wenn wir die einzelnen Biografien anschauen, ist da manchmal auch irgendwas schiefgegangen, oft handelt es sich bei den Mittätern aber auch um Kinder und Jugendliche ohne lange Delinquenzvorgeschichte. Was mich irritiert, ist die Dämonisierung der Taten und der jugendlichen Täter. Die Taten sind monströs, aber die Kinder, die sie begehen, sind keine Monster.
Was meinen Sie damit genau?
Die Dämonisierung macht es uns leichter, zu sagen: „Das könnte hier nie passieren, hier im geordneten Ulm.“Man drückt das irgendwie von sich weg. Und man sieht dabei weniger, wie solche Taten auch aus dem Moment heraus entstehen und aus einem Gefühl, „jetzt muss etwas passieren“, „ich nehme mir das“, „ich zeig’s euch mal“, aus Frust. Diese Taten haben oft keine lange Vorplanung.
Mit dem Fall Mülheim an der Ruhr, bei dem auch Zwölfjährige beteiligt waren, steht nun die Debatte im Raum: Wie sollen wir mit so jungen Straftätern umgehen? Wohin mit ihnen?
Das ist ein dramatisches Problem, wir definitiv nicht durch eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters lösen können. Wir haben derzeit ganz wenige Angebote, wo wir solche jungen Menschen behandeln und pädagogisch betreuen können. Die etwas Älteren, die strafmündig sind, gehen vielleicht in den Jugendknast. Nicht nur für die Jüngeren müsste die Jugendhilfe einen geeigneten erzieherischen Rahmen anbieten.
Drohen diese Täter andernfalls in späteren Jahren erneut gewalttätig zu werden?
Genau. Sie finden in ganz Deutschland aber kaum eine Einrichtung, die bereit ist, so ein Kind aufzunehmen. Alle sagen, mit denen muss unbedingt etwas gemacht werden - aber bitte nicht vor meiner Haustüre. Ich war mal als Direktor des Zentrums Nervenheilkunde in Rostock zuständig für den Bau einer forensischen psychiatrischen Klinik, wo Straftäter behandelt werden. Das weckte Emotionen fast wie der Bau eines Atomkraftwerks. Gleichzeitig will jeder, dass mit den Menschen etwas gemacht wird, um die Gefahr zu reduzieren. Wir brauchen die pädagogische Betreuung für diese jungen Menschen, aber wir haben hier enorme Versorgungsdefizite. Das ist für mich der eigentliche Skandal.
Ist man da anderswo weiter?
In der Schweiz sind die Betroffenen sehr viel stärker in Kinderheimen, die auch geschlossen sein können, teilweise sind sie sogar in Pflegefamilien platziert. Die Schweizer haben insgesamt weniger Rückfälligkeit als wir in Deutschland.
In der Therapie der Opfer ist man deutlich erfolgreicher, gerade auch in Ulm. Was zunächst richtet der Missbrauch bei einem Kind an?
Das kommt stark auf die Entwicklungsstufe an. Bei einem sexuellen Missbrauch durch Erwachsene an kleinen Kindern verstehen diese vor dem Grundschulalter oder auch im Grundschulalter gar nicht, dass das nicht normal ist. Sie können es häufig nicht einordnen. Für diese Kinder ist es oft in der Pubertät eine zusätzliche Belastung, zu verstehen, was Sexualität und was diese Übergriffe bedeutet haben. Wir sehen in der Traumaforschung in Ulm immer stärker, dass diese frühen Kindheitsbelastungen auch ein Risiko sind für das weitere Leben.
Wie sieht diese Belastung aus?
Man spricht vom Second Hit, wenn ein zweiter Schlag auftritt. Das kann ein Verkehrsunfall sein oder ein relativ banales Ereignis. Die Bundeswehr erforscht das auch bei Soldaten im Auslandseinsatz. Die Reaktionsweise auf eine ähnliche Belastung ist völlig unterschiedlich, ob ich traumatische Vorerfahrungen habe oder nicht. Deshalb ist es so schwierig zu sagen, wie sieht das typische Opfer aus. Wir haben da Stereotypen im Kopf, wir sehen jemanden, der traurig ist, depressiv, ängstlich, zurückgezogen. Wir haben aber relativ viele Betroffene, die auch aggressiv reagieren.
Und auch solche, die keine Therapie brauchen?
Richtig. Jeder Mensch ist unterschiedlich. Das hat mit Genetik und unserer Ausstattung zu tun, aber auch mit Fürsorge, die wir erlebt haben. Widerstandskraft ist auch eine Frage des Glücks. Das hängt davon ab, ob ich vielleicht Großeltern habe, die mir Hoffnung geben, die mich unterstützen. Das müssen wir sehr individuell betrachten.
Was brauchen Kinder, die diesen Hintergrund nicht hatten, die möglicherweise traumatisiert sind?
Aus der Forschung wissen wir sehr gut, dass wir diesen Kindern frühe Hilfen anbieten müssen. Da ärgert es mich, dass die nicht flächendeckend zur Verfügung stehen. Wir brauchen spezifische Opferambulanzen für Kinder. Kinder sind halt keine kleinen Erwachsenen, die benötigen kinderund jugendlichenspezifische Therapien. Da muss man die Erwachsenen, die Eltern, mit einbeziehen.
Wie können Eltern einbezogen werden?
Nach so einer Tat kann man zu Hause viel falsch machen. Indem ich das Kind in Watte packe, indem ich alle Alltagsregeln außer Kraft setze. Wenn man sagt, nein, heute brauchst du nicht früh ins Bett gehen, heute kannst du bei uns im Bett schlafen … Dann gebe ich dem Kind schon das Signal, jetzt ist etwas ganz Schlimmes passiert. Für Eltern ist es ganz wichtig, ihre Kinder darin zu unterstützen, den normalen Alltag weiterzuleben – auch nach so einer Tat. Und das muss man in der Kindertherapie,
in der Frühintervention mit vermitteln. Für mich besteht die große Hoffnung, dass durch die aktuelle Debatte, weil die Medien zu Recht über Lügde, über Staufen berichten, etwas geschieht. Nicht dass wir in zehn oder 20 Jahren wieder einen runden Tisch Sexueller Missbrauch haben und feststellen müssen, was heutzutage verpasst worden ist.
Die Eltern sind die eine Seite, wie aber können Sie den Kindern helfen?
Zuerst geht es um eine Stabilisierung im Alltag, sodass Kinder sich wieder trauen, zur Schule zu gehen. Also gegen die Angst quasi anzugehen. Das zweite zentrale Element ist eine Form von Auseinandersetzung mit dem, was man erlebt hat. Man muss für das fast Unsagbare ein Narrativ entwickeln, Wörter für das Trauma finden. Sobald man darüber reden kann, ist auch die massive emotionale Belastung gebannt.
Ist eine Art Heilung denn möglich?
Man kann den Vorfall nicht ungeschehen machen und das ist auch nicht die Funktion von Therapie. Das gehört zum Leben, und das ist und bleibt ein schlimmes Ereignis. Aber man kann es einordnen in eine Reihe von guten Erlebnissen und von schlimmen Dingen, und man kann darüber reden. Man kann für sich selbst vermeiden, dass man plötzlich eingeholt wird durch Erinnerungen, durch belastende Schlafstörungen, Ängste. Und das kann man wirklich sehr, sehr gut angehen.
Dazu muss ein Missbrauch aber auch erkannt werden. Woran stellen Eltern fest, dass möglicherweise etwas nicht stimmt?
Der Königsweg ist die Aussage des Kindes. Sehr viele Kinder, das wissen wir aus Forschungen, haben sich Erwachsenen anvertraut – und es ist eben nichts passiert. Also: Wir müssen den Kindern zuhören. Und das wird oft genug nicht getan.
Was wird dabei verpasst?
Wenn ein Kind nicht mehr ins Sporttraining gehen will, wenn ein Kind sagt, da ist plötzlich ein anderer Trainer. Oder wenn ein Kind sagt, zu dem Pfarrer will ich aber nicht mehr – dann sollten Eltern nach den Gründen fragen. Und nicht sagen: „Ich will aber, dass du Konfirmation oder Kommunion machst.“Oder „Du bist doch so gut im Turnen“oder „Du magst doch so gerne Klavier spielen“. Das sind häufig die Reaktionen. Oft haben die Kinder in dem Alter ja auch keinen Bock, dann versuchen Eltern zu motivieren. Aber da auch genau hinzuhören, das finde ich sehr wichtig.
Was Eltern nicht immer leichtfällt, wenn Kinder und Jugendliche bisweilen schweigsam sind ...
Es gehört zu einer ganz normalen Entwicklung in der Pubertät, dass man sich abgrenzt. Nur so entwickeln die Jugendlichen eigene Standards. Ganz wichtig ist, dass die Kinder wissen, auch wenn etwas fürchterlich schiefläuft: Ich kann mich gar nicht so dumm verhalten haben, dass ich nicht zu dir kommen kann. Deshalb ist auch diese häufige spontane Reaktion von Eltern, „warum hast du mir das denn nicht vorher gesagt?“, eigentlich falsch. Sie sollten stattdessen, wenn das Kind kommt, reagieren und dankbar sein, dass es sich Hilfe sucht. Was die Kinder wissen müssen, ist: Wenn es hart auf hart kommt, sind meine Eltern immer für mich da. Das zeichnet die Qualität in der Beziehung aus.
Ich kann auch kommen, wenn etwas völlig schiefgegangen ist ...?
Ja, und wenn wir jetzt nochmal an den Ausgang unseres Gesprächs denken: Die Jungs, die hier vielleicht Mittäter waren und sich durch eine Tatdynamik haben mit anstecken lassen – das ist ja auch für die Eltern unheimlich schwierig, zu diesen Kindern zu stehen. Um überhaupt den Fuß im Leben wieder auf den Boden zu kriegen, brauchen diese Kinder aber Beziehungspersonen, die für sie da sind, die sie fördern und die ihnen Respekt und Humanität vermitteln. Das ist eine ganz schreckliche Tat, ich teile diese Einschätzung und will das nicht bagatellisieren. Wir dürfen aber nicht bei dem Erschrecken stehen bleiben. Wir brauchen Antworten.
„Die Taten sind monströs, aber die Kinder, die sie begehen, sind keine Monster.“
Jörg Fegert „Wir müssen den Kindern zuhören. Und das wird oft genug nicht getan.“
Jörg Fegert