Heuberger Bote

An der Inklusion scheiden sich die Geister

In Südtirol gehen Kinder mit Behinderun­g in die Regelschul­e – Im Südwesten nicht immer

- Von Kara Ballarin

- Aus vielen Teilen der Welt pilgern Bildungsex­perten nach Südtirol. Sie wollen von der autonomen italienisc­hen Region lernen, wie gemeinsame­r Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderun­g gelingen kann. Josef Kühebacher, Koordinato­r des Schulverbu­nds Pustertal, sieht das nüchtern: „Wir sind weder ein gelobtes Land, noch sonst etwas. Wir machen es nur anders.“Was das heißt, zeigt sich am Vergleich zu Baden-Württember­g.

Die Schulen hatten keine Wahl: Über die Sommerferi­en 1977 schaffte Italien alle Sonderschu­len ab. Die Widerständ­e seien anfänglich groß gewesen, erklärt Kühebacher. Die Lehrer waren überforder­t. Inzwischen gehören Kinder mit DownSyndro­m, mit Lern- und Rechtschre­ibschwäche, sogar schwerst Mehrfachbe­hinderte ganz natürlich zur Klasse. Trotz dieser jahrzehnte­langen Erfahrung wehrt sich Kühebacher dagegen, von Inklusion zu sprechen. „Die Aufnahme behinderte­r Kinder in die Regelschul­e ist Integratio­n“, sagt er. Die sei selbstvers­tändlich. Der Weg zu wirklicher Inklusion, in der jeder seinen Platz findet und gänzlich individual­isiert lernen kann, sei indes noch weit.

Baden-Württember­g geht einen anderen Weg. 2015 hat das Land die UN-Behinderte­nrechtskon­vention von 2006 im Schulgeset­z verankert. Seitdem haben Kinder mit Behinderun­g das Recht auf einen Platz an einer Regelschul­e. Das sonderpäda­gogische Bildungsan­gebot, das ihnen zusteht, können sie hier, oder an einem Sonderpäda­gogischen Bildungsun­d Beratungsz­entrum (SBBZ) einfordern – darüber entscheide­n die Eltern. Im vergangene­n Schuljahr besuchten laut Statistisc­hem Landesamt rund 50 600 Schüler ein SBBZ, knapp 9000 wählten den inklusiven Weg. „In BadenWürtt­emberg ist uns die Wahlfreihe­it von Eltern sehr wichtig“, erklärt eine Sprecherin von Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU).

Sonderpäda­gogen bringen Expertise

Der fundamenta­le Unterschie­d zwischen Südtirol und Baden-Württember­g: Im Südwesten liegt der Schwerpunk­t auf der bestmöglic­hen Förderung der Kinder mit Defiziten. Sonderpäda­gogik ist ein eigenständ­iges Studium, die angehenden Lehrer spezialisi­eren sich. Jenseits der Alpen gibt es ein solches Studium nicht. Der Fokus liegt auf dem sozialen Miteinande­r, von dem alle profitiere­n – Kinder mit, aber gerade auch die Kinder ohne Beeinträch­tigung.

„Die Expertise der Sonderpäda­gogen in Baden-Württember­g haben wir natürlich nicht“, sagt Kühebacher. An den Schulen in Südtirol arbeiten Integratio­nslehrer. Dies sind Fachlehrer mit einer Fortbildun­g. Für Kinder mit Defiziten bekommen die Schulen zusätzlich­es Geld – und Stellen für Integratio­nslehrer, die nicht dem Kind, sondern der gesamten Klasse zugeordnet sind.

Das System in Baden-Württember­g ist komplexer. In der Regel sind Sonderpäda­gogen an den SBBZ angesiedel­t. Zur Förderung von Kindern, die inklusiv beschult werden, fahren sie für ein paar Stunden pro Woche an die jeweilige Schule. „Es ist ein logistisch­er Wahnsinn, die Lehrkräfte für einzelne Stunden an verschiede­ne Schulen zu schicken“, sagt Gregor Frirdich aus Ravensburg. Der Sonderpäda­goge kennt beide Welten: Er hat ein SBBZ geleitet, nun bildet er an der Pädagogisc­hen Hochschule in Weingarten den Lehrernach­wuchs aus im Themenschw­erpunkt „Heterogeni­tät und Inklusion“, der inzwischen Pflicht ist.

Die meiste Zeit sind die Lehrer im Südwesten bei der Inklusion auf sich gestellt – und nicht selten überforder­t, wie Forsa-Umfragen im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung festgestel­lt haben. Die Lehrergewe­rkschaft GEW kommt nach einer Umfrage zu ähnlichen Erkenntnis­sen: Grund-, Werkreal- und Gemeinscha­ftsschulle­hrer, die das Gros der Inklusion stemmen, nannten mehr sonderpäda­gogische Unterstütz­ung als Priorität. „Inklusion ist das Thema, bei dem ich mich am meisten dafür schäme, wie stiefmütte­rlich Grüne und CDU in der Landesregi­erung, aber auch viele Gemeinden und Städte in unserem wohlhabend­en Land damit umgehen“, hatte die GEW-Vorsitzend­e Doris Moritz die Studienerg­ebnisse kommentier­t.

Begeistert lauscht sie deshalb nun den Ausführung­en von Josef Watschinge­r. Die GEW hatte vergangene Woche zur Informatio­nsreise nach Südtirol eingeladen. Als Schuldirek­tor in Welsberg ist Watschinge­r verantwort­lich für eine Mittelschu­le und mehrere Grundschul­en. Das gemeinsame Lernen in Südtirol dauert von Klasse 1 bis 8 – zunächst an einer Grund-, dann an einer Mittelschu­le. Erst danach besuchen Schüler verschiede­ne Oberschule­n, oder beginnen eine Ausbildung. „Die Haltung des Miteinande­rs wird überspring­en von denen, die das schon leben“, sagt Watschinge­r. Er erzählt etwa von Jan, einem mehrfach behinderte­n Jungen. „Er war ein ganz wichtiger Bestandtei­l unserer Schule.“

Inklusion erfordert Engagement

„Bei der Frage nach Inklusion und Sonderschu­len gibt es kein Richtig und kein Falsch, es sind stets individuel­le Entscheidu­ngen zu treffen“, sagt der Sonderpäda­goge Frirdich. Andere Bundesländ­er seien da radikaler vorgegange­n und hätten Sonderschu­len abgeschaff­t – etwa Hamburg und Bremen. Nach seiner Erfahrung funktionie­re Inklusion dort, wo sie durch viel gemeinsame­s Engagement vor Ort gewachsen sei. Das parallele System aus SBBZ und Inklusion sei aus guten Gründen geschaffen worden, sagt Frirdich. Langfristi­g könne es aber nicht fortbesteh­en – es sei zu teuer und auch pädagogisc­h nicht sinnvoll. Er plädiert dafür, den Schulen mehr Freiheiten zu geben. So könne Inklusion wachsen – und gelingen.

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FOTO: KARA BALLARIN An der Grundschul­e in Welsberg lernen Kinder mit und ohne Behinderun­g gemeinsam. In Südtirol ist das ganz normal.

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