Auftakt mit nordischen Klängen
Paavo Järvi gibt sein Antrittskonzert als neuer Chef des Tonhalle-Orchesters Zürich
- Vieles ist derzeit im Umbruch beim Tonhalle-Orchester Zürich (TOZ). Die altehrwürdige Spielstätte am See, deren Einweihungskonzert 1895 Johannes Brahms geleitet hat, wird seit zwei Jahren innen und außen umfassend saniert und soll erst 2021 wiedereröffnet werden. In die 152. Saison des traditionsreichen Klangkörpers ist man jetzt mit einem neuen Chefdirigenten gestartet. Paavo Järvi präsentierte zu seinem Amtsantritt im Interimsaal der Maag-Halle Musik, die dem Repertoire des TOZ ebenfalls neue Facetten hinzufügte.
Nach der fast 20-jährigen Ära von David Zinman und vier weniger glücklichen Jahren mit dem jungen Lionel Bringuier möchte Järvi mit seinen Zürcher Musikern „unter die weltbesten Orchester“. Im Programm seiner drei Begrüßungskonzerte setzte der aus Estland stammende elfte Chefdirigent des international renommierten Ensembles auf Klänge aus dem hohen Norden. Zum Auftakt hob er die Neufassung einer kurzen Komposition seines Freundes und Landsmanns Arvo Pärt aus der Taufe. In Anwesenheit des 84-jährigen Tonsetzers gab es dafür tosenden Beifall.
Mehr als 70 Minuten dauerte dann Jean Sibelius’ Monumentalgemälde „Kullervo“, eine selten gespielte Sinfonische Dichtung für Sopran, Bariton, Männerchor und Orchester. Das 1892 in Helsinki uraufgeführte Mammutwerk basiert auf einer Episode des finnischen Nationalepos „Kalevala“. Seine volle Wirkung entfaltet das fünfsätzige, latent als Theatermusik konzpierte Opus nur im Konzert. In epischer Breite hat der junge Finne hier alles verarbeitet, was ihm in Helsinki, Berlin und Wien sinfonisch begegnet ist.
Anklänge an Bruckner und Tschaikowsky treffen auf modale Archaik, Fünfviertel-Metren, seltsam kreisende Wiederholungen und unerwartet kühne Harmonik. Mächtige Männerchorblöcke lassen mit ihrer hämmernden Einstimmigkeit bereits an Orffs „Carmina Burana“denken. Rohe Gesten, abrupte Pausen und Einbrüche elementarer Gewalt in den Erzählfluss zeugen vom unbedingten Willen, sich als Sinfoniker neben Mahler und Strauss Gehör zu verschaffen, wenngleich es in diesem frühen Stück neben genialischen Abschnitten auch einige unausgegorene Stellen gibt.
Järvi gelang mit den finnischen Solistengeschwistern Johanna und Villen Rusanen, der Zürcher Singakademie, dem Estnischen Nationalen Männerchor und dem TonhalleOrchester eine grandiose Wiedergabe des kraftzehrenden Werks. Trotz liebevoll ausgearbeiteter Details behielt er stets den Gesamtzusammenhang und die ideale Balance der Orchestergruppen im Auge. Mit ruhigen Bewegungen und zweckdienlich reduzierter Gestik erwies er sich am Pult als souveräner Koordinator.
Nach dieser spektakulären „Kullervo“-Aufführung zu seinem Einstand möchte Järvi nun mit dem TOZ in der Maag-Halle einen kompletten Zyklus der sechs Tschaikowsky-Sinfonien in Konzerten präsentieren und einspielen. Die Aufnahmen sollen dann anlässlich der Wiedereröffnung der sanierten Tonhalle am See veröffentlicht werden. Schon jetzt konnte der 1962 in Tallinn geborene Dirigent zum Saisonauftakt seine erste CD mit dem TOZ vorlegen. Sie enthält frühe und späte Orchesterwerke von Olivier Messiaen (Alpha Classics 548).
Musik französischer Komponisten steht ebenfalls auf dem Wunschzettel Järvis für sein Zürcher Orchester. Für sie hat sich der Sohn des renommierten Dirigenten Neeme Järvi schon begeistert, als er in der ehemaligen Sowjetunion nebenher noch Schlagzeug in einer estnischen Metal-Band spielte. 1980 zog die Musikerfamilie nach Kalifornien, wo er und sein jüngerer Bruder Kristjan Musik studierten. Zur Zeit leitet Paavo Järvi als Chefdirigent auch die Kammerphiharmonie Bremen und das NHK Symphony Orchestra in Tokio.