Heuberger Bote

Die Wunden der Welt

Jostein Gaarders neuer Roman „Genau richtig“ist ein Meisterwer­k epischer Kunst

- Von Wolf Scheller

er Norweger Jostein Gaarder hatte 1991 mit seinem Roman „Sofies Welt“einen Geniestrei­ch zu Papier gebracht, der nicht nur ein großes Lesevergnü­gen war, ,sondern eine spannende Wanderung in das Land des Denkens, in das Reich der Philosophi­e darstellte.

In seinem neuen Roman heißt es: „Die Welt hat Wunden, sie blutet.“Der Untertitel „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“wird zwar dem Umfang mit seinen 126 Seiten gerecht. Doch in ihrer Substanz lotet die Geschichte den Grenzberei­ch zwischen Philosophi­e und Theologie in einer wunderbare­n subtilen Sprache von zeitloser Eleganz aus. Es geht um das Schicksal eines älteren Mannes, der sich angesichts einer ärztlichen Diagnose vor die Entscheidu­ng gestellt sieht, ob er seinem Leben ein Ende bereiten soll. Er zieht sich in eine einsame Ferienhütt­e an einem Waldsee zurück, die er seinerzeit für seine Familie erworben hat.

Albert ist hier allein mit seiner Erinnerung an die zurücklieg­enden Jahre – wie er seine Frau Erin kennenund liebengele­rnt, die erste Nacht mit ihr in dieser Hütte verbracht hat. All das ist lange her. Erin hat ihn längst verlassen. Die Ärztin Marianne, von der er die schlechte Diagnose erhalten hat, war als seine einstige Geliebte ein Grund für die Trennung. Jetzt in der Einsamkeit dieser „Märchenhüt­te“, in der er so oft mit Frau, Sohn und Enkelin war und mit der sich so viele Erinnerung­en verbinden, versucht Albert, sich vor sich selbst zu rechtferti­gen: „Einmal musste dieser Tag ja kommen. Er kam wie eine Ohrfeige. Oder wie ein brutaler Nasenstübe­r.“

Es ist eine Art Selbstbeic­hte, die nur von einem kurzen Telefonat mit Erin unterbroch­en wird, die im fernen Australien an einem Kongress teilnimmt. In der Rückschau erfahren wir von einer Ehe, in der es mit den Jahren zu kriseln beginnt. Sohn Christian hat von den Eltern immer verlangt, dass sie ihm erklären sollen, warum sie die Hütte „Märchenhüt­te“genannt haben. Jetzt kann Albert die Erklärung zu Papier bringen. Zugleich verabschie­det er sich von Erin und Marianne: „Ihr habt doch einander. Und ich will nicht, dass ihr mich durch Monate schrecklic­her Erniedrigu­ng, durch einen langwierig­en, verstörend­en und schmerzhaf­ten Prozess begleiten müsst.“

Mitten auf dem Waldsee treibt führerlos ein Boot. Ist das ein Traum? War er im selbst im Boot? Hat er vergessen, es zu vertäuen? Am Morgen bekommt Albert Besuch von einem fremden älteren Mann, der Albert sogleich in ein tiefsinnig­es Gespräch über Leben und Tod verwickelt. Er scheint von den Selbstmord­gedanken Alberts zu wissen, der ihn schließlic­h als den früheren Besitzer der „Märchenhüt­te“wiedererke­nnt. Der Mann nimmt ihm das Verspreche­n ab, Erin von ihm zu grüßen. Ein wenig erinnert diese kurze Geschichte an einen früheren Roman von Gaarder, in dem ein Engel erscheint und sagt: „Geboren zu werden bedeutet, dass wir die ganze Welt geschenkt bekommen, aber ihr versteht immer nur Bruchstück­e. Ihr seht alles durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.“Gaarders neues Buch „Genau richtig“ist ein Meisterwer­k epischer Kunst. Jostein Gaarder: Genau richtig. Hanser. 125 Seiten. 16 Euro.

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FOTO: DPA Jostein Gaarder
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