Mehr als Ibsen und Knausgård
Norwegen ist das Gastland der Frankfurter Buchmesse - Eine lange literarische Tradition
(epd) - Beim Stichwort norwegische Literatur fällt oft zuerst ein Name: Karl Ove Knausgård. Doch der Shootingstar steht in einer langen Erzähltradition seiner Heimat, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse. In seinem Werk tauchen viele Wegbereiter auf. Seine Bücher gehören zu den literarischen Sensationen der vergangenen Jahre. Die sechs autobiografischen Bände von „Sterben“bis „Kämpfen“wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, Autor Karl Ove Knausgård erhielt zahlreiche Preise. Er gilt als einer der wichtigsten norwegischen Schriftsteller der Gegenwart, für viele ein Synonym für die Literatur seines Landes. Auf der Frankfurter Buchmesse will Ehrengast Norwegen nun aber zeigen, dass noch viele andere spannende Autoren zu bieten hat.
Norwegische Grimms
Der Superstar hat mit seiner schamlos offenen Autofiktion zwar seinen eigenen Stil entwickelt, steht aber in der Erzähltradition seines Landes, wie die Skandinavistin Karin Hoff (Göttingen) erklärt. „Knausgård bedient jetzt zwar ein neues Genre, stützt sich aber auf teils seit Jahrzehnten etablierte Mittel der skandinavischen Literatur: das quasi-biografische Schreiben, die starke Konzentration auf das Selbst, den Perspektivwechsel, das Montieren unterschiedlicher Passagen und vor allem die Verknüpfung mit sozialen Fragen“, sagt sie.
Diese Tradition reicht zurück bis in die Zeit vor der Unabhängigkeit Norwegens 1905. Im frühen 19. Jahrhundert erlebte die skandinavische Literatur mit der Nationalromantik und einer Wiederentdeckung der nordischen Mythologie ihren ersten Boom. In diese Zeit gehören etwa die Märchen von Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Moe, laut Hoff „quasi die norwegischen Gebrüder Grimm“. Ihre Sammlungen erscheinen zur Buchmesse nun in deutscher Übersetzung.
Ein zweiter Aufschwung folgte nach etwa 1870 mit dem sogenannten modernen Durchbruch. „Von da an wurden in der Literatur auch aktuelle gesellschaftliche Probleme des jungen norwegischen Bürgertums zur Debatte gestellt“, sagt Hoff. „Themen wie Ehe, Geschlechterverhältnis, wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau vom Mann, Fragen der Ökonomie und Kritik am Klerus wurden verstärkt diskutiert.“Der bekannteste norwegische Vertreter war Henrik Ibsen mit seinem weltberühmten Dramen wie „Nora oder Ein Puppenheim“, „Gespenster“und „Ein Volksfeind“.
Der Fokus auf die Gesellschaft wurde in der Folge zu einem Markenzeichen der skandinavischen Literatur. Das gilt auch für das Krimigenre mit Autoren wie Jo Nesbø: „Auch hier geht es um die Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung: Inwiefern sind die Täter auch Opfer der sozialen Verhältnisse, in denen sie leben?“, sagt Hoff.
Der Blick auf zeitgenössische Fragen brachte neben Knausgård weitere Autoren aus dem Leseland Norwegen zu Weltruhm, darunter Jostein Gaarder („Sofies Welt“), Maja Lunde („Die Geschichte der Bienen“) und Linn Ullmann („Die Unruhigen“). Auch dreier Literaturnobelpreisträger kann sich das Königreich rühmen: Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928).
Verbindung zu Deutschland
Dabei bestand nach Angaben Hoffs von jeher eine starke Verbindung nach Deutschland. So startete der Fischer Verlag schon Ende des 19. Jahrhunderts seine Buchserie „Nordische Bibliothek“, deutsche Autoren wie Thomas Mann mit seinen „Buddenbrooks“wurden stark beeinflusst von ihren Kollegen aus dem Norden.
Besonders populär ist seit den 1980er-Jahren zudem Kinderliteratur aus Skandinavien. „Vor allem seit Astrid Lindgren wird hier immer unterstellt, dass die Bücher aus der Region besonders wertvoll und innovativ sind und sich nicht scheuen, Tabuthemen wie Tod, Rassismus oder Homosexualität aufzugreifen“, sagt die Forscherin.
450 neue Übersetzungen
Dass nun auch Knausgård international so große Erfolge feierte, liegt nach Ansicht Hoffs auch „an der spezifisch norwegischen Situierung seiner Biografie“. „Seine Bücher bieten zum einen ein etwas exotisches Kolorit, einen Sehnsuchtsort und eine spezielle Landschaft, zum anderen behandelt er Themen, die wir alle wiedererkennen, wie familiäre Konflikte, Furcht vor Krankheit und sozialem Abstieg“, sagt sie.
Damit können die Bücher des 50Jährigen nach Ansicht von Experten die Tür öffnen zum Werk anderer Autoren aus dem Land der Fjorde — und sogar zur Quelle werden. „Wenn sich jemand mit der Gegenwartsliteratur in Norwegen vertraut machen möchte, dann empfehle ich gerne Knausgård“, sagt der Skandinavist Matthias Friedrich, Übersetzer für norwegische Belletristik aus Greifswald. „Seine Bücher sind ein riesiges Kompendium vieler Namen der norwegischen Literatur wie Tomas Espedal und Dag Solstad.“
Zum Kennenlernen neuer Autoren bietet der Ehrengastauftritt Norwegens unter dem Motto „Der Traum in uns“nun eine beispiellose Auswahl: Zur Buchmesse erscheinen nach Angaben der Vermarktungsorganisation Norla (Norwegian Literature Abroad) insgesamt 450 Bücher aus und über Norwegen auf Deutsch, viele Autoren werden zum ersten Mal übersetzt.