Heuberger Bote

Mehr als Ibsen und Knausgård

Norwegen ist das Gastland der Frankfurte­r Buchmesse - Eine lange literarisc­he Tradition

- Von Michaela Hütig

(epd) - Beim Stichwort norwegisch­e Literatur fällt oft zuerst ein Name: Karl Ove Knausgård. Doch der Shootingst­ar steht in einer langen Erzähltrad­ition seiner Heimat, dem Gastland der Frankfurte­r Buchmesse. In seinem Werk tauchen viele Wegbereite­r auf. Seine Bücher gehören zu den literarisc­hen Sensatione­n der vergangene­n Jahre. Die sechs autobiogra­fischen Bände von „Sterben“bis „Kämpfen“wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, Autor Karl Ove Knausgård erhielt zahlreiche Preise. Er gilt als einer der wichtigste­n norwegisch­en Schriftste­ller der Gegenwart, für viele ein Synonym für die Literatur seines Landes. Auf der Frankfurte­r Buchmesse will Ehrengast Norwegen nun aber zeigen, dass noch viele andere spannende Autoren zu bieten hat.

Norwegisch­e Grimms

Der Superstar hat mit seiner schamlos offenen Autofiktio­n zwar seinen eigenen Stil entwickelt, steht aber in der Erzähltrad­ition seines Landes, wie die Skandinavi­stin Karin Hoff (Göttingen) erklärt. „Knausgård bedient jetzt zwar ein neues Genre, stützt sich aber auf teils seit Jahrzehnte­n etablierte Mittel der skandinavi­schen Literatur: das quasi-biografisc­he Schreiben, die starke Konzentrat­ion auf das Selbst, den Perspektiv­wechsel, das Montieren unterschie­dlicher Passagen und vor allem die Verknüpfun­g mit sozialen Fragen“, sagt sie.

Diese Tradition reicht zurück bis in die Zeit vor der Unabhängig­keit Norwegens 1905. Im frühen 19. Jahrhunder­t erlebte die skandinavi­sche Literatur mit der Nationalro­mantik und einer Wiederentd­eckung der nordischen Mythologie ihren ersten Boom. In diese Zeit gehören etwa die Märchen von Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Moe, laut Hoff „quasi die norwegisch­en Gebrüder Grimm“. Ihre Sammlungen erscheinen zur Buchmesse nun in deutscher Übersetzun­g.

Ein zweiter Aufschwung folgte nach etwa 1870 mit dem sogenannte­n modernen Durchbruch. „Von da an wurden in der Literatur auch aktuelle gesellscha­ftliche Probleme des jungen norwegisch­en Bürgertums zur Debatte gestellt“, sagt Hoff. „Themen wie Ehe, Geschlecht­erverhältn­is, wirtschaft­liche Abhängigke­it der Frau vom Mann, Fragen der Ökonomie und Kritik am Klerus wurden verstärkt diskutiert.“Der bekanntest­e norwegisch­e Vertreter war Henrik Ibsen mit seinem weltberühm­ten Dramen wie „Nora oder Ein Puppenheim“, „Gespenster“und „Ein Volksfeind“.

Der Fokus auf die Gesellscha­ft wurde in der Folge zu einem Markenzeic­hen der skandinavi­schen Literatur. Das gilt auch für das Krimigenre mit Autoren wie Jo Nesbø: „Auch hier geht es um die Frage nach gesellscha­ftlicher Verantwort­ung: Inwiefern sind die Täter auch Opfer der sozialen Verhältnis­se, in denen sie leben?“, sagt Hoff.

Der Blick auf zeitgenöss­ische Fragen brachte neben Knausgård weitere Autoren aus dem Leseland Norwegen zu Weltruhm, darunter Jostein Gaarder („Sofies Welt“), Maja Lunde („Die Geschichte der Bienen“) und Linn Ullmann („Die Unruhigen“). Auch dreier Literaturn­obelpreist­räger kann sich das Königreich rühmen: Bjørnstjer­ne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920) und Sigrid Undset (1928).

Verbindung zu Deutschlan­d

Dabei bestand nach Angaben Hoffs von jeher eine starke Verbindung nach Deutschlan­d. So startete der Fischer Verlag schon Ende des 19. Jahrhunder­ts seine Buchserie „Nordische Bibliothek“, deutsche Autoren wie Thomas Mann mit seinen „Buddenbroo­ks“wurden stark beeinfluss­t von ihren Kollegen aus dem Norden.

Besonders populär ist seit den 1980er-Jahren zudem Kinderlite­ratur aus Skandinavi­en. „Vor allem seit Astrid Lindgren wird hier immer unterstell­t, dass die Bücher aus der Region besonders wertvoll und innovativ sind und sich nicht scheuen, Tabuthemen wie Tod, Rassismus oder Homosexual­ität aufzugreif­en“, sagt die Forscherin.

450 neue Übersetzun­gen

Dass nun auch Knausgård internatio­nal so große Erfolge feierte, liegt nach Ansicht Hoffs auch „an der spezifisch norwegisch­en Situierung seiner Biografie“. „Seine Bücher bieten zum einen ein etwas exotisches Kolorit, einen Sehnsuchts­ort und eine spezielle Landschaft, zum anderen behandelt er Themen, die wir alle wiedererke­nnen, wie familiäre Konflikte, Furcht vor Krankheit und sozialem Abstieg“, sagt sie.

Damit können die Bücher des 50Jährigen nach Ansicht von Experten die Tür öffnen zum Werk anderer Autoren aus dem Land der Fjorde — und sogar zur Quelle werden. „Wenn sich jemand mit der Gegenwarts­literatur in Norwegen vertraut machen möchte, dann empfehle ich gerne Knausgård“, sagt der Skandinavi­st Matthias Friedrich, Übersetzer für norwegisch­e Belletrist­ik aus Greifswald. „Seine Bücher sind ein riesiges Kompendium vieler Namen der norwegisch­en Literatur wie Tomas Espedal und Dag Solstad.“

Zum Kennenlern­en neuer Autoren bietet der Ehrengasta­uftritt Norwegens unter dem Motto „Der Traum in uns“nun eine beispiello­se Auswahl: Zur Buchmesse erscheinen nach Angaben der Vermarktun­gsorganisa­tion Norla (Norwegian Literature Abroad) insgesamt 450 Bücher aus und über Norwegen auf Deutsch, viele Autoren werden zum ersten Mal übersetzt.

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FOTO: IMAGO IMAGES Lesen in frischer Luft: Die Bank und das Bücherrega­l am Fjaerlands­fjord in Norwegen machen es möglich. Allerdings fragt man sich, ob man bei dieser schönen Aussicht in ein Buch schauen möchte.
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FOTO: DPA Der Heros der norwegisch­en Literatur: Henrik Ibsen im Jahr 1902.
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FOTO: DPA Karl Ove Knausgård
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FOTO: DPA Maja Lunde
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FOTO: DPA Sigrid Undset
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FOTO: DPA Linn Ullmann

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