Psychothriller am Polarkreis
Gøhril Gabrielsen schickt ihre Heldin als Klimaforscherin ans Ende der Welt
Die Norwegerin Gøhril Gabrielsen (Foto: Tine Poppe) erzählt in „Die Einsamkeit der Seevögel“von einer Flucht ans Ende der Welt. Die Auswirkungen des Klimawandels auf das Verhalten der Seevögel will sie erforschen. Deswegen quartiert sie sich ein in einer kleinen Hütte am nördlichsten Zipfel Norwegens. „Weit draußen, am äußersten Ende der Welt.“Nach der Trennung von ihrem Mann sehnt sich die nicht mehr junge Wissenschaftlerin nach der klaren Sprache der Natur. „Einen Wind, der sich in Stundenkilometern messen lässt, kann ich analysieren und bis zu einem gewissen Punkt verstehen, im Gegensatz zu Gefühlen, die sich jeglicher objektiven Messbarkeit entziehen.“Die erste Zeit will sie allein im Schnee verbringen. Dann soll ihr neuer Partner Jo nachkommen.
Sehnsucht und Stille
Das Setting, das Gøhril Gabrielsen in „Die Einsamkeit der Seevögel“entwirft, erinnert an einen Psychothriller. Und die 1961 geborene Norwegerin weiß den Stoff gekonnt zu inszenieren. Sie selbst ist in der Einsamkeit Finnmarks aufgewachsen und kennt die endlosen Winternächte nördlich des Polarkreises. Fünf Romane hat sie schon veröffentlicht. Übersetzt wurde bislang keiner. Doch weil Norwegen in diesem Herbst Ehrengast bei der Frankfurter Buchmesse ist, ändert sich das jetzt zum Glück. Gøhril Gabrielsen gehört ohne Frage zu den Entdeckungen dieses Bücherherbstes.
Natürlich kommt Jo nicht nach. Immer neue Ausreden führt er an. Die Ich-Erzählerin versucht sich in der Einsamkeit mit Studien abzulenken. Sie findet eine alte Broschüre, in der sie von Olaf und Borghild Berthelsen liest, die im 19. Jahrhundert mit fünf Töchtern und Sohn Niels in der einsamen Hütte lebten. Bei einem Brand kam Niels ums Leben. Nie konnte Olaf das seiner Frau verzeihen. Alles endete in einer Familientragödie.
Wenn der Wind draußen pfeift, meint die Wissenschaftlerin, die Schreie der Kinder zu hören. Ihre Fantasie verselbstständigt sich. Sie kriegt Fieber, macht sich immer mehr Vorwürfe, als Mutter ihre eigene Tochter Lina im Stich gelassen zu haben.
Fluchtort wird zur Falle
Gekonnt verknüpft Gøhril Gabrielsen die Zeitebenen und erzeugt eine ungeheure Spannung. Der Fluchtort wird zur Falle. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahn werden unscharf. Ein bisschen fühlt man sich an Elena Ferrante erinnert. An ein norwegisches Pendant dieser großen Unbekannten. Der weibliche Blick, die schwelende Verunsicherung der sich für emanzipiert haltenden Frau, die feststellen muss, dass es sie doch aus der Bahn wirft, wenn die Männer sie enttäuschen. Gøhril Gabrielsen führt eine Wissenschaftlerin vor, der der Boden unter den Füßen weggezogen wird, die sich nicht mehr verlassen kann auf ihre faktengestützte Wahrnehmung. Ein Stoff, der fast nach einer Verfilmung schreit. Gøhril Gabrielsen: Die Einsamkeit der Seevögel. Insel Verlag, 176 Seiten, 20 Euro