Vom Skandalgebäude zum Szenetreff
Der Watergate-Komplex in Washington bezieht aus dem Anrüchigen einen großen Teil seiner Anziehungskraft
ein, wegen der Pizza, serviert in einer Pappschachtel, kommt man nicht aufs Dach des Watergate-Hotels. Auch nicht wegen der Drinks. Nicht wegen des Moscow Mule, einer Kombination aus Wodka, Limettensaft und Ginger Beer. Nicht wegen eines Cocktails, den sie ein bisschen zu plakativ „1972“nennen und bei dem sich neben Alkoholischem Ananas- und Kirschsaft mit schwarzen Johannisbeeren mischen. 1972 war das Jahr, in dem das Watergate-Bürogebäude, der unmittelbare Nachbar des Hotels, Geschichte schrieb, auch wenn das damals noch nicht auf Anhieb klar war. Es ist das Jahr, dem die Dachterrasse mit ihrer schicken Bar das Anrüchige und damit einen großen Teil ihrer Anziehungskraft verdankt.
Zur blauen Stunde aufs Dach
Bei aller Skandalgeschichte, die sich heute so schön vermarkten lässt – das Beste ist die Aussicht auf Washington. Auf der einen Seite geht der Blick auf den an dieser Stelle schon sehr ansehnlichen Potomac River, der rund hundert Kilometer weiter Richtung Südosten als majestätischer Strom von der Breite eines Meeresarms in die ChesapeakeBucht mündet. Schräg darüber die Silhouette der Georgetown University. Steingraue Türme, die irgendwie ans alte Europa erinnern. Auf der anderen Seite, zur Mall mit ihren marmorweißen Monumentalbauten hin, der alles überragende Obelisk zum Gedenken an George Washington, den ersten Präsidenten der Republik.
Am schönsten ist es hier oben zur blauen Stunde, also kurz nach Sonnenuntergang, wenn es noch hell ist, aber ringsum schon die Lichter angehen. Die spiegeln sich dann im Fluss, während sich die Uni-Türme wie schwarze Zacken gegen das Rot der Abenddämmerung abzeichnen. Auf dem Wasser sind Ausflugsdampfer und Ruderachter unterwegs, auf den Uferwegen neben den Bootsschuppen der Ruderclubs Spaziergänger.
Watergate-Gags
Schon klar, wäre Watergate nicht das Synonym für Skandale, müsste sich die PR-Abteilung des Hotels Originelleres einfallen lassen als die naheliegenden Einlagen, mit denen man Gäste zum Schmunzeln zu bringen versucht. Auf Schlüsselkarten der sinnige Spruch, dass man nicht einbrechen muss, um in sein Zimmer zu kommen: „No need to break in“. Und auf den Bleistiften, die überall herumliegen, heißt es mit der Neigung zur kitschigen Dramatisierung: „I stole this from the Watergate-Hotel“. Von 2007 an stand das Haus leer, und seit es vor drei Jahren nach einer 125 Millionen Dollar teuren Renovierung wiedereröffnet wurde, schrecken die neuen Besitzer, kanadische Hoteliers, vor keinem Gag zurück, um die Marke Watergate in all ihrer Zwielichtigkeit anzupreisen. Das Zimmer mit der Nummer 214, in dem seinerzeit zwei der fünf Einbrecher abgestiegen waren, hat man zu einer Art Museum umfunktioniert. Mit einer Schreibmaschine und einem Kassettenrecorder, beides Modelle der 1970er-Jahre. Und einem Fernglas, weil die Helfer des GanovenQuintetts von einem eher schäbigen Motel gegenüber die Räume beobachteten, denen die ganze Aktion galt.
Die Geschichte ist schon so oft erzählt worden, dass es wohl genügt, sie hier nur stichpunktartig zu wiederholen. In der Nacht auf den 17. Juni 1972, nachts gegen halb eins, verschaffen sich fünf Männer, angereist aus Miami, über die Tiefgarage Zutritt zum Watergate Office Building, dessen sechsten Stock die Zentrale der Demokratischen Partei als Hauptquartier nutzt. Knapp drei Wochen zuvor hatten sie dort die Telefone verwanzt, aber wegen technischer Probleme wollen sie noch einmal hinein. Dumm nur für das Quintett, dass ein Wachmann namens Frank Wills kein Detail übersieht. Bei einem nächtlichen Rundgang fällt ihm auf, dass sich jemand mit Klebeband an Türschlössern zu schaffen gemacht hat, sodass die Türen nicht mehr ins Schloss fallen können. Wills alarmiert die Polizei, die die Einbrecher auf frischer Tat erwischt. Was zunächst wie eine beliebige Straftat aussieht, wächst sich rasch zur Watergate-Affäre aus. Die viel zitierte Spur des Geldes, der die „Washington-Post“-Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward folgen, führt bis zum Präsidenten. Zwei Jahre nach der Sache mit den Wanzen tritt Richard Nixon zurück, und das berühmt-berüchtigte Zimmer 214 ist heute der „Scandal Room“.
Dabei war das Watergate-Ensemble, bestehend aus drei Wohnhäusern, zwei Bürogebäuden und einem Hotel, einmal so etwas wie Avantgarde gewesen, bevor es in die Negativschlagzeilen geriet. Der Architekt, Luigi Moretti, stammte aus Italien, und was er am Potomac entwarf, wirkte im Vergleich zu dem, was seine amerikanischen Kollegen damals bauten, tatsächlich wie von einem anderen Planeten. Und das ausgerechnet in Foggy Bottom, einem Viertel, dessen Namen man mit „nebliges Hinterteil“übersetzen könnte – eine weitgehend vergessene Ecke der Stadt. Das Areal hatte den örtlichen Gaswerken gehört, ehe es der italienische Immobilienkonzern Societa Generale Immobiliare erwarb. Moretti zeichnete Gebäude mit kühnen Bögen, Gebäude in Halbkreisen – was Spötter an Bananen denken ließ oder an ein nur halb vollendetes römisches Kolosseum und den Architekturkritiker der „Washington Post“zu naserümpfendem Tadel veranlasste. So frivol zu bauen, schrieb er, sei ungefähr so angemessen, als würde man eine StripteaseTänzerin beim Begräbnis ihrer Großmutter auftreten lassen. Namensgeberin war übrigens das Water Gate Inn, eine Gaststätte am Fluss.
Prominente Bewohner
Nachdem 1966 die ersten Bewohner eingezogen waren, wurden Morettis Bananen schnell populär. Minister, Kongressabgeordnete, einige millionenschwere Privatleute – sie alle kauften Eigentumswohnungen im Watergate. Bob Dole, Senator und Präsidentschaftskandidat, lebt seit fast vierzig Jahren hier. Condoleezza Rice, erst Sicherheitsberaterin, dann Außenministerin George W. Bushs, eine begeisterte Klavierspielerin, lud regelmäßig Freunde in ihr Apartment ein, um Kammermusik zu machen. Ruth Bader Ginsburg, die älteste Richterin am Supreme Court, von ihren linksliberalen Fans wie ein Rockstar verehrt, wohnt im Parterre. Zu den regelmäßigen Gästen ihrer Silvesterpartys gehörte bis zu seinem Tod Antonin Scalia, der konservativste der neun Verfassungsrichter, mit dem sie gleichwohl eine enge Freundschaft verband. Monica Lewinsky, einst Praktikantin im Weißen Haus, suchte Zuflucht in der Wohnung ihrer Mutter, nachdem ihre Affäre mit Bill Clinton publik geworden war und die Paparazzi ihr in Mannschaftsstärke auflauerten. Lange her.
Wie eine Raumstation
Das Watergate, schwärmten die Architekten damals, würde eine Stadt in der Stadt sein. Raumstation Watergate! Eigentlich bräuchte man sie nie zu verlassen, weil es in ihr alles gab, vom Schwimmbecken bis hin zum Supermarkt. Doch wenn man heute durch die Ladenpassage im Kellergeschoss streift, stellt sich schnell Ernüchterung ein. Eine Drogerie neben einem Liquor Store, wo Hochprozentiges verkauft wird, und daneben eine Sandwichbude, viel mehr ist es nicht. Der Supermarkt, den es mal gab, ist längst weitergezogen, ebenso wie das Edelrestaurant des Franzosen Jean-Louis Palladin, eines Spitzenkochs, der Washington Mitte der 1990er-Jahre verließ, um sein Glück in Las Vegas zu versuchen. Was geblieben ist, wirkt, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Nur die Dachterrasse, die hat ihren Charme. Schade nur, dass sie nicht mal im Fahrstuhl, in dem man hinauffährt, auf billige Sprüche verzichten konnten. Zehn WatergateRegeln stehen dort auf einer Tafel. Eine warnt gewollt altmodisch vor imaginärer Abhörgefahr: „Stellen Sie sicher, dass der Kassettenrecorder aus ist“.