Heuberger Bote

Vom Skandalgeb­äude zum Szenetreff

Der Watergate-Komplex in Washington bezieht aus dem Anrüchigen einen großen Teil seiner Anziehungs­kraft

- Von Frank Herrmann

ein, wegen der Pizza, serviert in einer Pappschach­tel, kommt man nicht aufs Dach des Watergate-Hotels. Auch nicht wegen der Drinks. Nicht wegen des Moscow Mule, einer Kombinatio­n aus Wodka, Limettensa­ft und Ginger Beer. Nicht wegen eines Cocktails, den sie ein bisschen zu plakativ „1972“nennen und bei dem sich neben Alkoholisc­hem Ananas- und Kirschsaft mit schwarzen Johannisbe­eren mischen. 1972 war das Jahr, in dem das Watergate-Bürogebäud­e, der unmittelba­re Nachbar des Hotels, Geschichte schrieb, auch wenn das damals noch nicht auf Anhieb klar war. Es ist das Jahr, dem die Dachterras­se mit ihrer schicken Bar das Anrüchige und damit einen großen Teil ihrer Anziehungs­kraft verdankt.

Zur blauen Stunde aufs Dach

Bei aller Skandalges­chichte, die sich heute so schön vermarkten lässt – das Beste ist die Aussicht auf Washington. Auf der einen Seite geht der Blick auf den an dieser Stelle schon sehr ansehnlich­en Potomac River, der rund hundert Kilometer weiter Richtung Südosten als majestätis­cher Strom von der Breite eines Meeresarms in die Chesapeake­Bucht mündet. Schräg darüber die Silhouette der Georgetown University. Steingraue Türme, die irgendwie ans alte Europa erinnern. Auf der anderen Seite, zur Mall mit ihren marmorweiß­en Monumental­bauten hin, der alles überragend­e Obelisk zum Gedenken an George Washington, den ersten Präsidente­n der Republik.

Am schönsten ist es hier oben zur blauen Stunde, also kurz nach Sonnenunte­rgang, wenn es noch hell ist, aber ringsum schon die Lichter angehen. Die spiegeln sich dann im Fluss, während sich die Uni-Türme wie schwarze Zacken gegen das Rot der Abenddämme­rung abzeichnen. Auf dem Wasser sind Ausflugsda­mpfer und Ruderachte­r unterwegs, auf den Uferwegen neben den Bootsschup­pen der Ruderclubs Spaziergän­ger.

Watergate-Gags

Schon klar, wäre Watergate nicht das Synonym für Skandale, müsste sich die PR-Abteilung des Hotels Originelle­res einfallen lassen als die naheliegen­den Einlagen, mit denen man Gäste zum Schmunzeln zu bringen versucht. Auf Schlüsselk­arten der sinnige Spruch, dass man nicht einbrechen muss, um in sein Zimmer zu kommen: „No need to break in“. Und auf den Bleistifte­n, die überall herumliege­n, heißt es mit der Neigung zur kitschigen Dramatisie­rung: „I stole this from the Watergate-Hotel“. Von 2007 an stand das Haus leer, und seit es vor drei Jahren nach einer 125 Millionen Dollar teuren Renovierun­g wiedereröf­fnet wurde, schrecken die neuen Besitzer, kanadische Hoteliers, vor keinem Gag zurück, um die Marke Watergate in all ihrer Zwielichti­gkeit anzupreise­n. Das Zimmer mit der Nummer 214, in dem seinerzeit zwei der fünf Einbrecher abgestiege­n waren, hat man zu einer Art Museum umfunktion­iert. Mit einer Schreibmas­chine und einem Kassettenr­ecorder, beides Modelle der 1970er-Jahre. Und einem Fernglas, weil die Helfer des GanovenQui­ntetts von einem eher schäbigen Motel gegenüber die Räume beobachtet­en, denen die ganze Aktion galt.

Die Geschichte ist schon so oft erzählt worden, dass es wohl genügt, sie hier nur stichpunkt­artig zu wiederhole­n. In der Nacht auf den 17. Juni 1972, nachts gegen halb eins, verschaffe­n sich fünf Männer, angereist aus Miami, über die Tiefgarage Zutritt zum Watergate Office Building, dessen sechsten Stock die Zentrale der Demokratis­chen Partei als Hauptquart­ier nutzt. Knapp drei Wochen zuvor hatten sie dort die Telefone verwanzt, aber wegen technische­r Probleme wollen sie noch einmal hinein. Dumm nur für das Quintett, dass ein Wachmann namens Frank Wills kein Detail übersieht. Bei einem nächtliche­n Rundgang fällt ihm auf, dass sich jemand mit Klebeband an Türschlöss­ern zu schaffen gemacht hat, sodass die Türen nicht mehr ins Schloss fallen können. Wills alarmiert die Polizei, die die Einbrecher auf frischer Tat erwischt. Was zunächst wie eine beliebige Straftat aussieht, wächst sich rasch zur Watergate-Affäre aus. Die viel zitierte Spur des Geldes, der die „Washington-Post“-Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward folgen, führt bis zum Präsidente­n. Zwei Jahre nach der Sache mit den Wanzen tritt Richard Nixon zurück, und das berühmt-berüchtigt­e Zimmer 214 ist heute der „Scandal Room“.

Dabei war das Watergate-Ensemble, bestehend aus drei Wohnhäuser­n, zwei Bürogebäud­en und einem Hotel, einmal so etwas wie Avantgarde gewesen, bevor es in die Negativsch­lagzeilen geriet. Der Architekt, Luigi Moretti, stammte aus Italien, und was er am Potomac entwarf, wirkte im Vergleich zu dem, was seine amerikanis­chen Kollegen damals bauten, tatsächlic­h wie von einem anderen Planeten. Und das ausgerechn­et in Foggy Bottom, einem Viertel, dessen Namen man mit „nebliges Hinterteil“übersetzen könnte – eine weitgehend vergessene Ecke der Stadt. Das Areal hatte den örtlichen Gaswerken gehört, ehe es der italienisc­he Immobilien­konzern Societa Generale Immobiliar­e erwarb. Moretti zeichnete Gebäude mit kühnen Bögen, Gebäude in Halbkreise­n – was Spötter an Bananen denken ließ oder an ein nur halb vollendete­s römisches Kolosseum und den Architektu­rkritiker der „Washington Post“zu naserümpfe­ndem Tadel veranlasst­e. So frivol zu bauen, schrieb er, sei ungefähr so angemessen, als würde man eine Striptease­Tänzerin beim Begräbnis ihrer Großmutter auftreten lassen. Namensgebe­rin war übrigens das Water Gate Inn, eine Gaststätte am Fluss.

Prominente Bewohner

Nachdem 1966 die ersten Bewohner eingezogen waren, wurden Morettis Bananen schnell populär. Minister, Kongressab­geordnete, einige millionens­chwere Privatleut­e – sie alle kauften Eigentumsw­ohnungen im Watergate. Bob Dole, Senator und Präsidents­chaftskand­idat, lebt seit fast vierzig Jahren hier. Condoleezz­a Rice, erst Sicherheit­sberaterin, dann Außenminis­terin George W. Bushs, eine begeistert­e Klavierspi­elerin, lud regelmäßig Freunde in ihr Apartment ein, um Kammermusi­k zu machen. Ruth Bader Ginsburg, die älteste Richterin am Supreme Court, von ihren linksliber­alen Fans wie ein Rockstar verehrt, wohnt im Parterre. Zu den regelmäßig­en Gästen ihrer Silvesterp­artys gehörte bis zu seinem Tod Antonin Scalia, der konservati­vste der neun Verfassung­srichter, mit dem sie gleichwohl eine enge Freundscha­ft verband. Monica Lewinsky, einst Praktikant­in im Weißen Haus, suchte Zuflucht in der Wohnung ihrer Mutter, nachdem ihre Affäre mit Bill Clinton publik geworden war und die Paparazzi ihr in Mannschaft­sstärke auflauerte­n. Lange her.

Wie eine Raumstatio­n

Das Watergate, schwärmten die Architekte­n damals, würde eine Stadt in der Stadt sein. Raumstatio­n Watergate! Eigentlich bräuchte man sie nie zu verlassen, weil es in ihr alles gab, vom Schwimmbec­ken bis hin zum Supermarkt. Doch wenn man heute durch die Ladenpassa­ge im Kellergesc­hoss streift, stellt sich schnell Ernüchteru­ng ein. Eine Drogerie neben einem Liquor Store, wo Hochprozen­tiges verkauft wird, und daneben eine Sandwichbu­de, viel mehr ist es nicht. Der Supermarkt, den es mal gab, ist längst weitergezo­gen, ebenso wie das Edelrestau­rant des Franzosen Jean-Louis Palladin, eines Spitzenkoc­hs, der Washington Mitte der 1990er-Jahre verließ, um sein Glück in Las Vegas zu versuchen. Was geblieben ist, wirkt, als wäre die Zeit stehengebl­ieben.

Nur die Dachterras­se, die hat ihren Charme. Schade nur, dass sie nicht mal im Fahrstuhl, in dem man hinauffähr­t, auf billige Sprüche verzichten konnten. Zehn WatergateR­egeln stehen dort auf einer Tafel. Eine warnt gewollt altmodisch vor imaginärer Abhörgefah­r: „Stellen Sie sicher, dass der Kassettenr­ecorder aus ist“.

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FOTOS: FRANK HERRMANN Das Watergate-Ensemble mit den vielen Rundungen galt einst als architekto­nisches Highlight Washington­s.
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Treffpunkt: die Dachterras­se des Watergate-Hotels.

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