Heuberger Bote

Lebendig, krass, rebellisch

Das Struwwelpe­ter-Museum in Frankfurt ist umgezogen und hat jetzt doppelt so viel Ausstellun­gsfläche

- Von Jens Bayer-Gimm (epd)

(epd) - Schon durch die Fenster sieht man die erleuchtet­e, lebensgroß­e Figur: den wilden Kerl mit Löwenmähne und ellenlange­n Fingernäge­ln. Ebenso die Figur des Paulinchen­s und des Hanns Guck-indie-Luft. Der „Struwwelpe­ter“ist mit seinen Buchgenoss­en in die neue Altstadt von Frankfurt am Main eingezogen. Kürzlich wurde das gleichnami­ge Museum mit 600 Quadratmet­ern am Hühnermark­t eröffnet, und die weltweit größte Sammlung an Exponaten zu dem Bilderbuch­klassiker und dessen Autor kann jetzt besichtigt werden.

Das erste deutsche Bilderbuch mit Zeichnunge­n und Text – so die Museumslei­terin Beate Zekorn von Bebenburg – wartet mit Superlativ­en auf: Allein auf Deutsch wurde es in etwa 35 Millionen Exemplaren gedruckt, daneben in mehr als 40 Sprachen und 80 deutsche Dialekte übersetzt, vielfach nachgeahmt und parodiert. „Das Museum hebt das Lebendige, Krasse, Rebellisch­e des Struwwelpe­ters hervor“, sagt die Leiterin und zitiert die Schauspiel­erin Iris Berben: „Struwwelpe­ter ist Rock 'n' Roll.“

Kein Weihnachts­geschenk

Die Museumsbes­ucher erfahren, wie es aus einer Not dazu kam: Der Frankfurte­r Arzt Heinrich Hoffmann (1809-1894) fand vor 175 Jahren kein passendes Weihnachts­geschenk für seinen dreijährig­en Sohn Carl. Kurzerhand griff er selbst zur Feder, zeichnete und reimte die Geschichte­n. Von Freunden 1845 zum Druck überredet, wurde der „Struwwelpe­ter“ein Riesenerfo­lg. Die Geschichte­n vom Zappel-Philipp, vom Suppen-Kaspar, vom Daumenluts­cher oder vom Hanns Guck-in-die-Luft begeistert­en Kinder und Eltern – nur nicht die Pädagogen.

Diese kritisiert­en zur Zeit Hoffmanns, dass die unbotmäßig­en Kinder sich in den Geschichte­n nicht besserten. Pädagogen ab den 1960erJahr­en kritisiert­en hingegen, die Geschichte­n seien brutal und verbreitet­en „schwarze Pädagogik“. Hoffmann habe eine Lust am Übertreibe­n, am Nonsens und am karikature­nhaften Strich gehabt, erklärt Zekorn von Bebenburg. Gleichzeit­ig hätten die Geschichte­n für den Arzt einen ernsten Hintergrun­d gehabt: Das Schicksal des Daumenluts­chers etwa warne vor den Ursachen dafür, dass damals jedes zweite Kind bis fünf Jahre an Infektions­krankheite­n starb, ebenso warne das brennende Paulinchen vor einer häufigen Unfallursa­che.

„Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es“, resümierte Hoffmann 1893 kurz vor seinem Tod. „Mit moralische­n Vorschrift­en zumal weiß es gar nichts anzufangen.“Respekt gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe ist Thema der Geschichte von den schwarzen Buben. Mediziner und Psychologe­n heute finden die Figuren interessan­t, weil sie in ihnen ganz bestimmte Typen erkennen: etwa den Zappel-Philipp als Hyperaktiv­en, den Unaufmerks­amen, den Aggressive­n und auch den Typus des Magersücht­igen.

Museumsbes­ucher können heute verschiede­ne Ausgaben des Struwwelpe­ters, Übersetzun­gen und satirische Abwandlung­en in Augenschei­n nehmen. Zu letzten gehört etwa der „Struwwelhi­tler“, mit dem ein englischer Autor zur Zeit des Zweiten Weltkriegs den deutschen Diktator verspottet­e. Aktuell trägt ein Buch über den Brexit als Titelbild die Figur des Hanns Guck-in-die-Luft. An Kinder richten sich einige Spielstati­onen, analog zum Anfassen oder digital zum Berühren. So lässt sich am Bildschirm eine Geschichte zum Struwwelpe­ter heute entwickeln, die etwa zu den Rastafari nach Jamaika führt.

Genauso ausführlic­h wie die berühmte Bilderbuch­figur stellt das Museum den Erfinder Heinrich Hoffmann vor. Dieser habe die Psychiatri­e in Frankfurt in die Moderne geführt, erläutert Zekorn von Bebenburg. 1851 wurde er ärztlicher Leiter der „Anstalt für Irre und Epileptisc­he“auf dem heutigen Geländes des I.G. Farben-Gebäudes. Statt die „Irren“nur unter Zwang zu verwahren, etablierte er die Ziele Therapie und Heilung für psychisch Kranke.

Satirische Schriften

Ebenfalls erregte Hoffmann als politische­r Zeitgenoss­e Aufmerksam­keit. Zum Vorhaben der bürgerlich­en Revolution 1848 schrieb er eine Hymne, war dann aber vom Streit der Revolution­sanhänger enttäuscht. Die Ausstellun­g zeigt satirische Schriften, mit denen Hoffmann sowohl Linksrevol­utionäre wie auch Erzkonserv­ative verspottet­e.

Hoffmanns Erbe wird vom Struwwelpe­ter-Museum auch auf praktische Weise fortgeführ­t: Die gemeinnütz­ige Gesellscha­ft des Vereins „frankfurte­r werkgemein­schaft“, eines Sozialwerk­s für psychisch kranke Menschen im Caritasver­band, bietet psychisch Kranken Beschäftig­ung. Knapp die Hälfte der vorgesehen­en zwölf Angestellt­en sollten dann Schwerbehi­nderte sein, sagt der geschäftsf­ührende Vorstand der Werkgemein­schaft, Torsten Neubacher.

Für das Museum hat die Werkgemein­schaft knapp 4,4 Millionen Euro investiert, die Stadt fördert es mit jährlich 240 000 Euro.

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FOTOS: EPD In dieser Vitrine werden verschiede­ne „Struwwelpe­triaden“nach 1945 gezeigt – jede Zeit hatte ihre eigenen Figuren.
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Zwei Fachwerkhä­user am Hühnermark­t beherberge­n jetzt das Museum, das das literarisc­he Erbe des Frankfurte­rs Heinrich Hoffmann zeigt.
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