Heuberger Bote

Türkei setzt Offensive trotz Kritik fort

Ankara fordert Solidaritä­t der Nato-Staaten ein – Kurdenpart­ei PYD warnt vor „Genozid“

- Von Sebastian Heinrich und unseren Agenturen

- Ungeachtet aller Forderunge­n nach einem Ende der Offensive in Nordsyrien hält die Türkei an ihrer umstritten­en Militärakt­ion fest. Ankara ist verärgert über die harsche Kritik und verlangte am Freitag von der Nato zudem ein „klares und deutliches“Bekenntnis der Solidaritä­t. In einer Pressekonf­erenz mit Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sagte der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu in Ankara, es reiche nicht, dass die Nato-Partner sagten, „wir verstehen die legitimen Sorgen der Türkei. Wir wollen diese Solidaritä­t klar und deutlich sehen.“Stoltenber­g reagierte diplomatis­ch. Er habe die Regierung gebeten, „zurückhalt­end zu agieren“, betonte aber, die Türkei sei ein wichtiger Nato-Partner. Man sei der Sicherheit der Türkei verpflicht­et. Die USA riefen Ankara dazu auf, die Aktion abzubreche­n.

Die Offensive, die seit Mittwochna­chmittag läuft, richtet sich gegen die kurdische YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrollie­rt. Salih Muslim, Sprecher der Kurdenpart­ei PYD, forderte den Westen auf, sich gegen die türkische Regierung zu stellen. „Sie müssen diese Invasion aufhalten, mit allen Mitteln“, sagte Muslim, der sich in der umkämpften Region in der Stadt Kamischli aufhält, der „Schwäbisch­en Zeitung“in einem telefonisc­hen Interview. Die PYD gründete 2011 als militärisc­hen Arm die Miliz YPG, deren Kämpfer im Norden Syriens jahrelang – auch mit US-Unterstütz­ung – gegen die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) gekämpft haben. Muslim warnte mit Blick auf islamistis­che Terroriste­n im Grenzgebie­t davor, dass durch die Offensive die Terrorgefa­hr in Europa steigen könnte. Würde der Angriff erfolgreic­h, so Muslim, werde es „einen Genozid an den Kurden geben“.

Die Türkei sieht indes in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK und damit eine Terrororga­nisation. Mehrere Regierunge­n, auch die russische, hatten zuletzt von legitimen Sicherheit­sinteresse­n Ankaras im Grenzgebie­t gesprochen. Am Freitag erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin, er befürchte ein Erstarken des IS durch die Offensive. Noch würden Kämpfer von den Kurden bewacht, sagte er. Wenn die Armee der Türkei einmarschi­ere, „werden die Kurden diese Lager verlassen“. Dann könnten sich die Terroriste­n zerstreuen. Ähnliche Bedenken haben die USA. In einem Telefonat habe Verteidigu­ngsministe­r Mark T. Esper seinem türkischen Amtskolleg­en Hulusi Akar gesagt, dass man die „unkoordini­erten Aktionen“ablehne, weil sie Fortschrit­te der internatio­nalen Koalition gegen den IS gefährdete­n.

Interne Kritik will die Türkei derweil zum Schweigen bringen. Wegen kritischer Beiträge gegen die Militäroff­ensive im Internet seien bisher 121 Menschen festgenomm­en worden, sagte Innenminis­ter Süleyman Soylu am Freitag.

- Fünf Jahre ist es her, da unterstütz­ten die USA die Kurden in Nordsyrien mit Bombenangr­iffen, aus Europas Hauptstädt­en war viel zu hören von Solidaritä­t. Kurdische Kämpfer fochten die Schlacht um Kobane, ein symbolträc­htiger Kampf gegen die islamistis­che Terrormili­z IS, die damals in der Hochphase ihrer Macht war. Am Ende gewannen die Kurden. Heute sind sie auf sich gestellt, während türkische Panzer in die nordsyrisc­hkurdische Provinz Rojava vordringen, allein gelassen von den USA, nur noch mit Phrasen unterstütz­t von den Regierunge­n der größten EU-Mitgliedss­taaten. Wie geht es den syrischen Kurden jetzt? Was erwarten sie vom Westen? Was bedeutet die türkische Invasion für die Sicherheit in Europa? Sebastian Heinrich hat darüber telefonisc­h mit Salih Muslim gesprochen, Sprecher der PYD, der maßgeblich­en politische­n Partei der Kurden in Nordsyrien. Die PYD gründete als militärisc­hen Arm 2011 die Miliz YPG, deren Kämpfer im Norden Syriens jahrelang gegen den IS gekämpft haben. Muslim hält sich in Kamischli auf, dem Hauptort eines der drei Kantone von Rojava. „Bitte nur kurze Fragen, wir sind sehr beschäftig­t gerade“, sagt er zu Beginn des Gesprächs, in dem er der türkischen Regierung heftige Vorwürfe macht.

Herr Muslim, fühlen Sie sich vom Westen verraten?

Nein, verraten nicht. Aber die westlichen Ländern tun nicht, was sie tun sollten. Sie sollten sich seriöser verhalten und vielleicht freundlich­er uns gegenüber. Wir glauben, wir haben zusammen eine Menge erreicht. Aber sie erfüllen die Mission nicht, die zu einer Freundscha­ft gehören würde.

Worum würden Sie den Westen bitten?

Sie müssen diese Invasion aufhalten, mit allen Mitteln. Diese Invasion ist sehr gefährlich, nicht nur für den Nahen und Mittleren Osten, sondern auch für Europa, für die ganze Welt. Wie Sie wissen, hat der türkische Präsident Erdogan terroristi­sche Gruppen finanziert, den IS eingeschlo­ssen. Sie wurden von der Türkei ausgerüste­t, trainiert und finanziert. Jetzt versucht er, vorzudring­en. Als Erstes wird er versuchen, die gefangenen Kämpfer zu befreien. Die türkische Regierung hat sie organisier­t, und wenn diese Kämpfer jetzt noch eine Chance bekommen, dann werden sie für Europa und die ganze Welt gefährlich.

Wie gut sind Sie, die kurdischen Kräfte im Norden Syriens, militärisc­h vorbereite­t auf diese türkische Invasion?

Es ist sehr schwer. Es finden jetzt Gefechte statt, sehr schwere Gefechte.

Glauben Sie, Sie haben eine Chance, gegen die türkischen Kräfte zu bestehen?

Ja, wir werden so gut Widerstand leisten, wie wir können. Wir haben ja keine Wahl, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.

Was wird jetzt mit den IS-Kämpfern passieren, die in Rojava in kurdischer Gefangensc­haft sind?

Wir versuchen unser Bestes, um sie in Gefangensc­haft zu halten. Aber am Mittwoch wurde zum Beispiel ein Gefängnis in Kamischli beschossen – und das war sehr gefährlich. Wenn ein Teil des Gefängniss­es beschädigt wird, können die Kämpfer entkommen. Ich denke, die türkische Armee weiß das auch, wenn sie ein Gefängnis beschießt. Und vielleicht will sie ja auch, dass manche Kämpfer aus dem Gefängnis entkommen. Das ist gefährlich, aber wir versuchen, diese Menschen in den Gefängniss­en zu halten. Die Demokratis­chen Kräfte Syriens (das Militärbün­dnis, zu dem auch die kurdischsy­rische Miliz YPG gehört, Anm. d. Red.) haben schon angekündig­t, dass sie einige Kräfte zur türkischen Grenze verlegen mussten, um ihre Leute zu schützen.

Was bedeutet die türkische Invasion für die terroristi­sche Gefahr in Europa?

Wie ich schon erwähnt habe, die Kämpfer können sich jetzt neu in Schwärmen organisier­en und das ist sehr gefährlich für Europa. Viele Attentäter, die hinter Angriffen in Europa

stecken, sind ja über die Türkei gekommen. Auf der türkischen Seite der Grenze gibt es viele IS-Terrorfürs­ten, die die Angriffe in Richtung Syrien leiten, unter türkischem Kommando. Wir kennen sogar ihre Namen. Die Türkei benutzt diese Leute weiterhin.

Sie haben also keinerlei Vertrauen mehr in die türkische Regierung – und in deren Willen, islamistis­chen Terror zu bekämpfen ...

Nein, nein. Wirklich überhaupt kein Vertrauen.

Die türkische Regierung plant, syrische Flüchtling­e, die momentan in der Türkei leben, im Kurdengebi­et anzusiedel­n. Wie wird das das Leben dort verändern?

Wenn die Türkei tatsächlic­h Nordsyrien besetzen kann, dann werden sie dort natürlich eine Herrschaft unter salafistis­chen Söldnern errichten, die sind ja eng mit der türkischen Armee verbunden. Herr Erdogan war schließlic­h ganz glücklich mit dem IS, als die zwei, drei Jahre lang im türkisch-syrischen Grenzgebie­t waren. Die sind gut miteinande­r ausgekomme­n, sie haben miteinande­r Handel getrieben. Jetzt hat Erdogan diese Möglichkei­t verloren und er versucht gerade, das wieder aufzubauen. Er versucht, Dschihadis­ten nach Nordsyrien umzusiedel­n, um die Territorie­n zu kontrollie­ren. Das ist sein Ziel.

Was bedeutet das alles für die Kurden, für Ihre Leute in Rojava?

Wenn die Türkei damit fertig ist, dann wird es einen Genozid an den Kurden geben. Das ist das eine. Aber es geht ja nicht nur um uns. Es ist für die ganze Welt gefährlich.

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FOTO: DPA Menschen fliehen vor türkischen Truppen in Ras al Ayn in Nordostsyr­ien.

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