Türkei setzt Offensive trotz Kritik fort
Ankara fordert Solidarität der Nato-Staaten ein – Kurdenpartei PYD warnt vor „Genozid“
- Ungeachtet aller Forderungen nach einem Ende der Offensive in Nordsyrien hält die Türkei an ihrer umstrittenen Militäraktion fest. Ankara ist verärgert über die harsche Kritik und verlangte am Freitag von der Nato zudem ein „klares und deutliches“Bekenntnis der Solidarität. In einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Ankara, es reiche nicht, dass die Nato-Partner sagten, „wir verstehen die legitimen Sorgen der Türkei. Wir wollen diese Solidarität klar und deutlich sehen.“Stoltenberg reagierte diplomatisch. Er habe die Regierung gebeten, „zurückhaltend zu agieren“, betonte aber, die Türkei sei ein wichtiger Nato-Partner. Man sei der Sicherheit der Türkei verpflichtet. Die USA riefen Ankara dazu auf, die Aktion abzubrechen.
Die Offensive, die seit Mittwochnachmittag läuft, richtet sich gegen die kurdische YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert. Salih Muslim, Sprecher der Kurdenpartei PYD, forderte den Westen auf, sich gegen die türkische Regierung zu stellen. „Sie müssen diese Invasion aufhalten, mit allen Mitteln“, sagte Muslim, der sich in der umkämpften Region in der Stadt Kamischli aufhält, der „Schwäbischen Zeitung“in einem telefonischen Interview. Die PYD gründete 2011 als militärischen Arm die Miliz YPG, deren Kämpfer im Norden Syriens jahrelang – auch mit US-Unterstützung – gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) gekämpft haben. Muslim warnte mit Blick auf islamistische Terroristen im Grenzgebiet davor, dass durch die Offensive die Terrorgefahr in Europa steigen könnte. Würde der Angriff erfolgreich, so Muslim, werde es „einen Genozid an den Kurden geben“.
Die Türkei sieht indes in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Mehrere Regierungen, auch die russische, hatten zuletzt von legitimen Sicherheitsinteressen Ankaras im Grenzgebiet gesprochen. Am Freitag erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin, er befürchte ein Erstarken des IS durch die Offensive. Noch würden Kämpfer von den Kurden bewacht, sagte er. Wenn die Armee der Türkei einmarschiere, „werden die Kurden diese Lager verlassen“. Dann könnten sich die Terroristen zerstreuen. Ähnliche Bedenken haben die USA. In einem Telefonat habe Verteidigungsminister Mark T. Esper seinem türkischen Amtskollegen Hulusi Akar gesagt, dass man die „unkoordinierten Aktionen“ablehne, weil sie Fortschritte der internationalen Koalition gegen den IS gefährdeten.
Interne Kritik will die Türkei derweil zum Schweigen bringen. Wegen kritischer Beiträge gegen die Militäroffensive im Internet seien bisher 121 Menschen festgenommen worden, sagte Innenminister Süleyman Soylu am Freitag.
- Fünf Jahre ist es her, da unterstützten die USA die Kurden in Nordsyrien mit Bombenangriffen, aus Europas Hauptstädten war viel zu hören von Solidarität. Kurdische Kämpfer fochten die Schlacht um Kobane, ein symbolträchtiger Kampf gegen die islamistische Terrormiliz IS, die damals in der Hochphase ihrer Macht war. Am Ende gewannen die Kurden. Heute sind sie auf sich gestellt, während türkische Panzer in die nordsyrischkurdische Provinz Rojava vordringen, allein gelassen von den USA, nur noch mit Phrasen unterstützt von den Regierungen der größten EU-Mitgliedsstaaten. Wie geht es den syrischen Kurden jetzt? Was erwarten sie vom Westen? Was bedeutet die türkische Invasion für die Sicherheit in Europa? Sebastian Heinrich hat darüber telefonisch mit Salih Muslim gesprochen, Sprecher der PYD, der maßgeblichen politischen Partei der Kurden in Nordsyrien. Die PYD gründete als militärischen Arm 2011 die Miliz YPG, deren Kämpfer im Norden Syriens jahrelang gegen den IS gekämpft haben. Muslim hält sich in Kamischli auf, dem Hauptort eines der drei Kantone von Rojava. „Bitte nur kurze Fragen, wir sind sehr beschäftigt gerade“, sagt er zu Beginn des Gesprächs, in dem er der türkischen Regierung heftige Vorwürfe macht.
Herr Muslim, fühlen Sie sich vom Westen verraten?
Nein, verraten nicht. Aber die westlichen Ländern tun nicht, was sie tun sollten. Sie sollten sich seriöser verhalten und vielleicht freundlicher uns gegenüber. Wir glauben, wir haben zusammen eine Menge erreicht. Aber sie erfüllen die Mission nicht, die zu einer Freundschaft gehören würde.
Worum würden Sie den Westen bitten?
Sie müssen diese Invasion aufhalten, mit allen Mitteln. Diese Invasion ist sehr gefährlich, nicht nur für den Nahen und Mittleren Osten, sondern auch für Europa, für die ganze Welt. Wie Sie wissen, hat der türkische Präsident Erdogan terroristische Gruppen finanziert, den IS eingeschlossen. Sie wurden von der Türkei ausgerüstet, trainiert und finanziert. Jetzt versucht er, vorzudringen. Als Erstes wird er versuchen, die gefangenen Kämpfer zu befreien. Die türkische Regierung hat sie organisiert, und wenn diese Kämpfer jetzt noch eine Chance bekommen, dann werden sie für Europa und die ganze Welt gefährlich.
Wie gut sind Sie, die kurdischen Kräfte im Norden Syriens, militärisch vorbereitet auf diese türkische Invasion?
Es ist sehr schwer. Es finden jetzt Gefechte statt, sehr schwere Gefechte.
Glauben Sie, Sie haben eine Chance, gegen die türkischen Kräfte zu bestehen?
Ja, wir werden so gut Widerstand leisten, wie wir können. Wir haben ja keine Wahl, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.
Was wird jetzt mit den IS-Kämpfern passieren, die in Rojava in kurdischer Gefangenschaft sind?
Wir versuchen unser Bestes, um sie in Gefangenschaft zu halten. Aber am Mittwoch wurde zum Beispiel ein Gefängnis in Kamischli beschossen – und das war sehr gefährlich. Wenn ein Teil des Gefängnisses beschädigt wird, können die Kämpfer entkommen. Ich denke, die türkische Armee weiß das auch, wenn sie ein Gefängnis beschießt. Und vielleicht will sie ja auch, dass manche Kämpfer aus dem Gefängnis entkommen. Das ist gefährlich, aber wir versuchen, diese Menschen in den Gefängnissen zu halten. Die Demokratischen Kräfte Syriens (das Militärbündnis, zu dem auch die kurdischsyrische Miliz YPG gehört, Anm. d. Red.) haben schon angekündigt, dass sie einige Kräfte zur türkischen Grenze verlegen mussten, um ihre Leute zu schützen.
Was bedeutet die türkische Invasion für die terroristische Gefahr in Europa?
Wie ich schon erwähnt habe, die Kämpfer können sich jetzt neu in Schwärmen organisieren und das ist sehr gefährlich für Europa. Viele Attentäter, die hinter Angriffen in Europa
stecken, sind ja über die Türkei gekommen. Auf der türkischen Seite der Grenze gibt es viele IS-Terrorfürsten, die die Angriffe in Richtung Syrien leiten, unter türkischem Kommando. Wir kennen sogar ihre Namen. Die Türkei benutzt diese Leute weiterhin.
Sie haben also keinerlei Vertrauen mehr in die türkische Regierung – und in deren Willen, islamistischen Terror zu bekämpfen ...
Nein, nein. Wirklich überhaupt kein Vertrauen.
Die türkische Regierung plant, syrische Flüchtlinge, die momentan in der Türkei leben, im Kurdengebiet anzusiedeln. Wie wird das das Leben dort verändern?
Wenn die Türkei tatsächlich Nordsyrien besetzen kann, dann werden sie dort natürlich eine Herrschaft unter salafistischen Söldnern errichten, die sind ja eng mit der türkischen Armee verbunden. Herr Erdogan war schließlich ganz glücklich mit dem IS, als die zwei, drei Jahre lang im türkisch-syrischen Grenzgebiet waren. Die sind gut miteinander ausgekommen, sie haben miteinander Handel getrieben. Jetzt hat Erdogan diese Möglichkeit verloren und er versucht gerade, das wieder aufzubauen. Er versucht, Dschihadisten nach Nordsyrien umzusiedeln, um die Territorien zu kontrollieren. Das ist sein Ziel.
Was bedeutet das alles für die Kurden, für Ihre Leute in Rojava?
Wenn die Türkei damit fertig ist, dann wird es einen Genozid an den Kurden geben. Das ist das eine. Aber es geht ja nicht nur um uns. Es ist für die ganze Welt gefährlich.