Heuberger Bote

„Halt die Fresse und verrecke!“

Der Hass im Netz kennt keine Grenzen – Was kann man dagegen tun?

- Von Michael Wollny

Halt einfach die Fresse und verrecke Wollny.“Unter den unzähligen Beleidigun­gen und Hassbotsch­aften, die ich als Online-Journalist bis heute erhalten habe, haben sich zwei wie Ätzkalk ins Gedächtnis gebrannt. Die zitierte Aufforderu­ng zum stillen Ableben, weil dies mein allererste­r Kontakt mit digitalem Hass war. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren. Ich hatte gerade bei Eurosport angefangen und einen kritischen Text über Lance Armstrong geschriebe­n, „Unter dem Gipfel über dem Zenit“. Ich war irritiert, konnte die Form der „Kritik“nicht einordnen. Kannte mich der Typ?

„Alles halb so wild“, beruhigte mich damals ein Kollege. „Daran gewöhnst du dich. Mit der Zeit bekommt man ein dickes Fell.“Es wurde Krokodilha­ut. Gewöhnt habe ich mich bis heute dennoch nicht daran, will mich auch gar nicht daran gewöhnen. Denn das würde bedeuten, diesen Hass zu akzeptiere­n. Ebenso die eigene Ohnmacht, das Entsetzen, die Wut und den Schmerz, wenn man lesen muss, dass die eigene Tochter „bei diesem Vater“heute besser dran wäre, wenn man sie „damals abgetriebe­n“hätte. Die zweite Hassbotsch­aft, einige Jahre später. Sie wurde zwar gelöscht, in meiner Erinnerung aber bleibt sie unauslösch­lich. Jedes einzelne Wort, das mir damals die Tränen in die Augen trieb.

Meine Erfahrung ist nicht exklusiv. In der digitalen Welt leiden unzählige Menschen. Jeden Tag. Sie werden gequält und bisweilen vernichtet. Wie soll sich ein Mensch an so etwas gewöhnen? Und warum sollte man sich als Mensch an diese Unmenschli­chkeit gewöhnen? Gewöhnung wäre gleichbede­utend mit Kapitulati­on. Mehr denn je in Zeiten, in denen sich Dummheit und Frust addieren, Vernunft und Anstand subtrahier­en und „soziale“Medien das Ergebnis mit dem Faktor Hass zu einem asozialen Endprodukt multiplizi­eren. Woher kommt diese Wut, dieser Hass, diese Maßlosigke­it, ja dieser Kontrollve­rlust in Tonalität und Sprache? Ist das nach der babylonisc­hen Sprachverw­irrung die misanthrop­ische Sprachveri­rrung oder gar die linguistis­che ZombieApok­alypse, in der ein Wut-Virus die Menschen befällt, weshalb sie sich gegenseiti­g verbal zerfleisch­en?

Diese gesellscha­ftliche Rücksichts­losigkeit ist nicht neu. Neu aber ist die Dynamik, mit der sie sich heute auf digitalen Kommunikat­ionswegen in aller Öffentlich­keit lautstark fortbewegt. Meinungsau­tobahnen, wo in der Mitte die Moral mit Lichthupe drängelt, Arroganz und Ignoranz mit Vollgas links vorbei jagen und rechtsauße­n der Stumpfsinn mit erhobenem Mittelfing­er auf dem Pannenstre­ifen überholt. Die Sachlichke­it, sie bleibt dabei sprichwört­lich auf der Strecke und verblasst alsbald als vage Erinnerung im Rückspiege­l. Wenn aber eine Gesellscha­ft in der digitalen Welt so rücksichts­los unterwegs ist, führt das unweigerli­ch auch im realen Leben zur Karambolag­e, zu Stau und somit Stillstand. Und es wird Opfer geben, weil niemand für die Vernunft eine Rettungsga­sse bildet.

Das Problem ist erkannt, einige zivilgesel­lschaftlic­he Bewegungen stellen sich der digitalen Enthemmung entgegen - und setzen sich dem Hass aus. Bei „Reconquist­a Internet“etwa ist der Name Programm. Das Internet soll nicht den Wütenden überlassen werden, nicht den Trollen und Menschenfe­inden, die vor allem Rechtsextr­emismus und Fremdenhas­s in digitalen Echokammer­n klangverst­ärken. Mit eskalieren­der Rhetorik wird das „Overton-Fenster“, das moralische Sprachgren­zen definiert, verschoben – auch vom Digitalen ins Reale. Und längst nicht mehr nur im Schutz der Anonymität, sondern immer häufiger mit Klarnamen.

Mit dem Anspruch, etwas „ja wohl noch sagen“zu dürfen, wird so auch wieder Unsägliche­s scheinbar sagbar. Politiker diktieren Journalist­en Begriffe wie „Asyltouris­mus“und „Anti-Abschiebe-Industrie“in die Blöcke, als sei das etwa kein widerliche­s Framing, sondern schlichtwe­g ein Faktum. Wutbürger verhöhnen auf einem Marktplatz das Massenster­ben im Mittelmeer mit „Absaufen!“-Sprechchör­en. Zurück im Netz hetzt man gegen „linksgrünv­ersiffte Gutmensche­n“und das „Gesindel aus Afrika“, das „wie Sondermüll entsorgt“werden sollte oder verspricht „Systempoli­tikern“und „Schmierfin­ken der Lügenpress­e“, dass „nach der Machtergre­ifung aufgeräumt“wird. Man werde schon sehen.

Dabei rechtferti­gen ausgerechn­et jene, die den Rechtsstaa­t verachten, ihre hasserfüll­te Sprache mit Verweis auf rechtsstaa­tlich garantiert­e Meinungsfr­eiheit. Es macht fassungslo­s, wenn diese perfide Taktik dann tatsächlic­h rechtsstaa­tlich legitimier­t wird. Denn was nützt etwa ein Netzwerkdu­rchsuchung­sgesetz gegen Hasskommen­tare, wenn irrlichter­nde Juristen in ihrer Beurteilun­g den Verstand verloren zu haben scheinen wie jüngst am Landgerich­t Berlin?

Zur Beantwortu­ng der Frage muss man zurück in eine Zeit, in der Vergewalti­gung in der Ehe noch keine Straftat war und der NRWLandesv­erband der Grünen einen innerhalb der Partei äußerst umstritten­en Antrag einbrachte, mit dem einvernehm­licher Sex mit Minderjähr­igen entkrimina­lisiert werden sollte. Das war 1985. Während einer Debatte im Berliner Abgeordnet­enhaus ein Jahr später hatte ein CDU-Abgeordnet­er – bewusst oder unbewusst – in einem Zwischenru­f falsch aus dem Antrag zitiert und die Gewaltlosi­gkeit unterschla­gen. Renate Künast, die den umstritten­en NRW-Antrag selbst ablehnte, korrigiert­e mit einem eigenen Zwischenru­f und dem Hinweis: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“

In einem „Welt“-Artikel von 2015 wurde das Zitat dann aus dem Kontext gerissen, ein rechter Blogger berief sich später darauf und verfälscht­e Künasts Zwischenru­f in einem Facebook-Post mit den Worten „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“Unter dem Post explodiert­e daraufhin der Hass, gegen den Künast juristisch vorging.

So musste die Grünen-Politikeri­n über sich lesen, sie sei „als Kind ein wenig viel gef…. worden“, man müsse dieses „Stück Scheiße“und diese „Drecksfotz­e“mal „richtig durchknatt­ern“. Man könnte ihr „die Fresse polieren“. Sie sei eine „Schlampe“, ein „Dreckschwe­in“und weiteres Menschenve­rachtendes – nein, Menschenze­rstörendes mehr. Die Berliner Richter wollten jedoch in keiner dieser Scheußlich­keiten eine Beleidigun­g erkennen und bewerteten sie stattdesse­n als „eine Auseinande­rsetzung in der Sache“und „zulässige Meinungsäu­ßerungen“.

Eine haarsträub­ende juristisch­e Fehlleistu­ng, die auf breiter Front Ungläubigk­eit und Entsetzen auslöste. So dachte die gemeinnütz­ige Gesellscha­ft „HateAid“die Argumentat­ion der Richter zu Ende und stellte zu Recht fest, dass mit dem Urteil Menschen von öffentlich­en Ämtern abgeschrec­kt würden, wenn sie sich solchem Hass schutzlos aussetzen müssten. Gleiches gelte für Ehrenamtli­che, die sich gegen diesen Hass engagierte­n. Sie würden sich die Frage stellen, ob ihr Engagement überhaupt noch Sinn ergebe.

Muss diese Frage mit Nein beantworte­t werden, dann obsiegt der Hass, denn er gewinnt die Diskurshoh­eit. Es wäre Wahnsinn. Ein Wahnsinn, wie er vor wenigen Tagen dem bayerische­n SPDGeneral­sekretär Uli Grötsch ins Mail-Postfach gespült wurde: „Tötet Uli Grötsch! Genickschu­ss! Wie Lübcke!“

Der rechtsextr­em motivierte Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübke im Juni dieses Jahres dokumentie­rt auf grausame Weise einen Zusammenha­ng zwischen dieser digitalen Vernichtun­gslust und realer Gewalt. Es ist bisweilen eben zuerst das Wort, das Hass und Bösartigke­it zum Ausdruck bringt, bevor es von Hassenden und Bösartigen in Taten umgesetzt wird. So wie nun in Halle.

Wenn man also annehmen darf, dass Sprache nicht nur ein Spiegelbil­d des Charakters, sondern auch die „Kleidung unserer Gedanken“ist, wie der britische Linguist Samuel Johnson bereits im 18. Jahrhunder­t feststellt­e, dann ist klar, was wir drei Jahrhunder­te später in unserem digitalen Spiegelbil­d erblicken: eine Gesellscha­ft mit herunterge­lassenen Hosen.

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