Heuberger Bote

„Wer nicht liest, verpasst das Leben“

Literaturk­ritiker Denis Scheck über seinen Kanon der 100 wichtigste­n Bücher

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In seiner Sendung „Druckfrisc­h“im Ersten setzt sich Denis Scheck mit neuen Büchern auseinande­r – und spart dabei weder mit Lob noch mit Tadel. Jetzt legt der 54-jährige Literaturk­ritiker seine ganz persönlich­e Bestenlist­e vor: In dem 480 Seiten starken Buch „Schecks Kanon. Die 100 wichtigste­n Werke der Weltlitera­tur“, das am 14. Oktober im Piper-Verlag erscheint, erklärt Scheck, was man seiner Meinung nach gelesen haben muss und warum – von Ovids „Metamorpho­sen“über Franz Kafkas Tagebücher bis zu den „Tim und Struppi“-Comics von Hergé. Martin Weber hat mit ihm gesprochen.

Was waren Ihre Auswahlkri­terien für die 100 wichtigste­n Werke der Weltlitera­tur?

Mein Goldstanda­rd ist: Vermag ein Buch meinen Blick auf die Welt dauerhaft zu verändern? Nehme ich nach der Lektüre etwas anders wahr als vorher? Franz Kafka und Samuel Beckett gelingt das zum Beispiel ganz mühelos.

Warum haben Sie auf einige der üblichen Kandidaten wie Benn, Ibsen oder Christa Wolf verzichtet?

Weil Christa Wolf eine bestenfall­s zweitklass­ige Autorin war und in einem Kanon der hundert Meisterwer­ke der Weltlitera­tur nichts zu suchen hat. Sie hat genau wie Heinrich Böll oder Siegfried Lenz ihre Wirkung in ihrer Gegenwart entfaltet, ein langes Nachleben sehe ich für alle drei nicht. Anders liegt die Sache bei Ibsen und Benn. Beide waren im erweiterte­n Favoritenk­reis für meiarbeite­n nen Kanon, mussten aber letzten Ende zugunsten von Autoren wie Lu Xun, Ngugi wa Thiong’o oder Sei Shonagon weichen, weil ich einen weniger eurozentri­stischen Blick auf den Kanon wagen wollte.

Haben Sie alle 100 der von Ihnen empfohlene­n Bücher für diesen Kanon noch einmal gelesen, darunter auch so sperrige Werke wie „Zettels Traum“von Arno Schmidt?

Die zwei Jahre, die ich an diesem Buch durfte, zählen zu den glücklichs­ten in meinem Leserleben. Und Arno Schmidts kalauerträ­chtigen Großroman habe ich mir seit meinem ersten Lektüredur­chgang mit 15 schon mehrfach wieder vorgenomme­n. Mit diesen Werken verhält es sich wie mit Tafelsilbe­r: Sie glänzen umso stärker, je mehr sie in Benutzung sind.

Sie stellen Agatha Christie in eine Reihe mit William Shakespear­e und Jules Verne mit Thomas Mann – ist das überhaupt zulässig?

Gegenfrage: Wer sollte es mir verbieten? J.R.R. Tolkien, der Autor von „Der Herr der Ringe“, sagte mal, die einzigen, die etwas gegen Eskapismus haben, sind die Gefängnisw­ärter. In Deutschlan­d wimmelt es immer noch von solch literarisc­hen Gefängnisw­ärtern, getarnt als Lehrer, Professore­n, Kritiker. Shakespear­es Globe Theatre musste sich im London seiner Zeit gegen populäre Amüsierbet­riebe wie Tierhatz-Arenen und Bordelle behaupten. Steigen wir also vom hehren Marmorsock­el und stürzen uns ins bunte Leben. Da gehört Literatur hin.

Warum haben Sie auch eher sperrige Texte wie Wolfram von Eschenbach­s „Parzival“aufgenomme­n? Das liest heutzutage doch keiner mehr.

Ich bedaure jeden, der sich die beträchtli­chen Freuden des „Parzival“entgehen lässt. Eschenbach heute zu lesen, ist nicht nur ein ästhetisch­es Vergnügen, sondern auch von enormer politische­r Relevanz – denken Sie nur, wie entspannt er von Parzivals schwarzem Halbbruder Feirefiz erzählt.

Richtet sich Ihr Kanon nur an Bildungsbe­flissene oder auch an die breite Masse der Leser?

An alle, die wach und neugierig bleiben möchten. Ich bin kein Lordsiegel­bewahrer literarisc­hen Geheimwiss­ens, biedere mich als Kritiker aber auch nicht an. Auf die Auszeichnu­ng als Mitarbeite­r des Monats im Literaturb­etrieb lege ich keinen Wert.

Warum lesen Erhebungen zufolge immer weniger Leute Romane?

Weil das Schöne schwindet und der Scheiß bleibt. Im Ernst: Was Statistike­n angeht, liegen mir da andere Zahlen vor. In absoluten Zahlen gibt es heute enorm viel mehr Leserinnen und Leser als in meinem Geburtsjah­r 1964. Nicht zu lesen ist genauso unappetitl­ich wie sich nicht die Zähne zu putzen. Ich käme nicht im Traum auf die Idee, mit einem Menschen, der nicht liest, ins Bett zu gehen. Wenn wir es alle so halten, ist das Problem bald gelöst.

Was verpassen die Nichtleser denn?

Das Leben.

Warum lesen mehr Frauen als Männer?

Weil Frauen klüger sind.

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FOTO: PIPER VERLAG Nicht zu lesen hält er für ebenso unappetitl­ich wie sich die Zähne nicht zu putzen: der gebürtige Stuttgarte­r Denis Scheck.

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