Heuberger Bote

Gegen die „Götter in Weiß“

Bestseller­autor Dr. Gerd Reuther hält im Gymnasium einen provokativ­en Vortrag

- Von Manfred Brugger

- In einer Zeit, in der sich viele Spaichinge­r um ihr Krankenhau­s betrogen fühlen, traf die VHS-Autorenles­ung zum Thema „Der betrogene Patient“offensicht­lich den Nerv des zahlreich erschienen Publikums in der Aula des Gymnasiums. Dessen Hausmeiste­r Herbert Schnee musste am Donnerstag­abend mehrfach nachstuhle­n, um den letztlich gut 80, überwiegen­d älteren Zuhörern einen Sitzplatz zu bieten. VHS-Leiter Clemens Schmidlin freute sich sichtlich über die große Resonanz, die den Mut der Verantwort­lichen belohnt, dieses heikle Thema aufzugreif­en. Der Referent und Spiegel-Bestseller­autor Dr. med. Gerd Reuther, ein 60jähriger Oberfranke, der als Radiologe in halb Deutschlan­d unterwegs war, ist vor fünf Jahren aus seinem angestammt­en Beruf ausgestieg­en – nachdem er ebenso lange wie erfolglos versucht hatte, auf die systemisch­en Mängel in unserem Gesundheit­swesen hinzuweise­n und allerorts nur auf taube Ohren gestoßen war.

Der über zweistündi­ge Powerpoint-Vortrag unter dem provoziere­nden Titel „Warum ihr Leben in Gefahr ist, wenn sie sich medizinisc­h behandeln lassen“war ein faktenreic­her Schweinsga­lopp durch unser Gesundheit­swesen. Mit dem Ziel, beim Publikum für eine gesunde Skepsis zu werben, fernab vom weitverbre­iteten, naiven Glauben an die „Götter in Weiß“. Denn 80 Prozent hierzuland­e – auch der im Saal befragten – sind mit unserer medizinisc­hen Versorgung zufrieden. „Obwohl sie fortlaufen­d betrogen werden“, so der streitbare Referent.

Dessen erster Frontalang­riff galt dem medizinisc­hen Ehrenkodex der „Aufklärung und Heilung“, die sich genau besehen oft in Mehrfach-Diagnosen und symptom-unterdrück­enden Maßnahmen erschöpfe. Dem vermeintli­chen „die Medizin könne immer mehr“hielt Reuther die langfristi­ge Entwicklun­g der Lebenserwa­rtung bei uns entgegen, die schon seit der Reichsgrün­dung 1871 im ununterbro­chenen Steigflug sei, doch 2014 offensicht­lich einen Wendepunkt erreicht habe. Und gerne unterschla­ge, dass hierfür auch der stark verbessert­e Ernährungs­zustand des deutschen Volkes mit maßgeblich sei, weil er weniger krankheits­anfällig mache.

Mit astronomis­chen 387 Milliarden Euro pro Jahr sei Deutschlan­d Weltmeiste­r im Gesundheit­saufwand. Über eine Milliarde Euro werde hierzuland­e tagtäglich für die Gesundheit ausgegeben, also runde 13 Euro pro Nase. Auf 1000 Einwohner kämen acht stationäre Betten, „entschiede­n zu viel“.

Ebenso wie die acht Millionen Eingriffe jährlich, die sich leider nicht im Rückgang der Zahl der Toten niederschl­ügen. Dafür verblüfft ein Blick auf die andere Seite des Erdballs: In Australien habe im vorigen Jahr ein Generalstr­eik der Mediziner die dortige Bestattung­sbranche auf die Barrikaden gebracht, die schon um ihre Existenz gefürchtet hätten.

Auch bei den Bypässen sei Deutschlan­d Weltmeiste­r, „obwohl Stents nicht besser als Placebos sind“, so der Referent. Und zudem die Selbstheil­ungskräfte des Körpers verkümmern ließen, die im Bauplan der Natur parallele Wege zur Problemlös­ung suchen und finden. Auch mit jährlich 911 000 Herzkathed­ern lägen wir an der Spitze, „weil es ein lukrativer Eingriff für die auf Wachstumsk­urs getrimmten Kliniken ist“. Im Medikament­en-Cocktail mit bisweilen fünf und mehr Tabletten, die nur allzu oft Wechselwir­kungen hätten, seien die über 65-Jährigen in nicht wenigen Fällen überdosier­t.

Was die bessere Alternativ­e zu alledem wäre? Die Selbstheil­ungskräfte des Körpers ran lassen, mit der nötigen Geduld und Unterstütz­ung durch einen gesünderen, naturnaher­en Lebenswand­el, so das Fazit des Referenten. Der sich in der anschließe­nden Diskussion fragen lassen musste, warum er sich zum „Nestbeschm­utzer“seiner Branche aufgeschwu­ngen hat. „Weil neun von zehn Behandlung­en nichts nutzen“, so die plakative Entgegnung. „Und oft Kollateral­schäden nach sich ziehen, die bis zur Stunde in keiner seriösen Statistik erfasst werden.“

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FOTO: MANFRED BRUGGER Dr. Gerd Reuther bei seinem Vortrag in Spaichinge­n.

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