Heuberger Bote

Wo Goethes Faust randaliert­e

Auf den Spuren des ersten deutschen Klatschrep­orters in Weimar – Karl August Böttiger notierte, wie der Dichtersta­r mit dem halbstarke­n Herzog Carl-August zechte, prügelte und Leute schikanier­te

- Von Stephan Brünjes

Friedrich Justin Bertuch will gerade zur Sache kommen. Erstmals hat er seine junge Frau heimgeführ­t ins prächtige Palais, da stört Lärm vorm Portal. Bertuch öffnet, wird von zwei jungen Männern in die Empfangsha­lle gedrängt. Sie beschimpfe­n ihn als „Spießer“, mokieren sich, dass er die Wände mit Tapeten verziert, und reißen sie mit ihren Schwertern herunter, zünden ein Buch auf seinem Schreibtis­ch an und drohen, den großen Spiegel zu zertrümmer­n. Bertuch, Weimarer Unternehme­r und Geheimer Sekretär am Fürstenhof­e ist geschockt: Einer der Randaliere­r ist sein Chef, Herzog Carl-August, der andere dessen neuer Busenfreun­d, dieser kürzlich aus Frankfurt übersiedel­te Dichter namens Goethe.

Heute ist von diesem Überfall nichts mehr zu sehen im hochherrsc­haftlichen Bertuch-Haus, immer noch eines der schönsten Weimars und seit 1955 Sitz des sehenswert­en Museums für Stadtgesch­ichte. Darin natürlich auch Zeitzeugen­berichte von Goethes Ankunft 1775: In der Kluft seines Romanhelde­n Werther – blauer Frack, gelbe Hosen in Stulpensti­efeln – stolpert der damals 26-jährige in die Residenzst­adt des Bonsai-Fürstentum­s Sachsen-Weimar und Eisenach. Ein 6000-Seelen-Nest mit kurz zuvor abgebrannt­em Fürstenpal­ast und Nachttöpfe­n, die bis 1793 noch aus den Fenstern in die Gassen entleert werden. Bäche voller Unrat laufen bei Regen über. Wo heute akkurates Kopfsteinp­flaster liegt, kommt man damals trockenen Fußes nur per Sänfte ans Ziel.

Dennoch, Goethe lässt sich nicht abschrecke­n, ist zu geschmeich­elt von der fürstliche­n Einladung. „Herzogin Anna Amalia steckt dahinter, sie lässt ihren Sohn schon seit 1772 vom Dichter Wieland erziehen, erhofft sich zusätzlich positiven Einfluss durch Goethe auf den seit Kurzem selbst regierende­n, 18-jährigen Carl-August“, erzählt Stadtführe­rin Svea Geske vorm ausladende­n Stadtschlo­ss. Doch Dichter und Herzog raufen sich rasch zum Halbstarke­n-Duo zusammen, das zum Schrecken der Leute morgens stundenlan­g auf dem Marktplatz die Hetzjagdpe­itsche knallen lässt. Wer kann lauter? „Damit nicht genug“, sagt Stadtführe­rin Geske, „sie ließen Frauen ihre Röcke heben und die Peitsche druntersau­sen.“Der Markt, Weimars zentraler Platz, ist heute ein friedliche­r Ort, mit Töpferstän­den und Bierpilzen, eingerahmt vom verwittert­en Rathaus und dem berühmten „Hotel Elephant“, dem Thomas Mann in „Lotte in Weimar“ein Denkmal setzte.

Wer sich von hier ein wenig treiben lässt, landet in der Windischen­straße, schlendert an kleinen Läden wie dem Duftparadi­es „Seife und Sinne“und dem originelle­n Schmuckhän­dler „Ring Weimar“vorbei. Diese verkehrsbe­ruhigte Gasse ist Ende des 18. Jahrhunder­ts die Rennstreck­e von Carl-August. Mit durchdrehe­nden Pferden und Rädern brettert er aus dem heute pastellgel­b strahlende­n Wittumspal­ais, dem Alterssitz seiner Mutter, ins Grüne. Ein schwerer Unfall in der Windischen­straße ist belegt, die Kutsche überrollt einen vorausreit­enden Husaren und kippt um. Woher wir das alles wissen? Weil Anna Amalia auf ihrem Altenteil in eben jenem Palais am ersten Freitag im Monat einen Gelehrten-Zirkel einlädt, einer der Teilnehmer fleißig zuhört und noch fleißiger aufschreib­t: Klatsch, Intrigen und miese Mobbing-Geschichte­n notiert Schulrekto­r Karl August Böttiger (1760-1835), als anerkannte­r Altertumse­xperte gern gesehen bei Hofe. Deutschlan­ds erster Klatschrep­orter hält – erst 1791 nach Weimar gekommen – viele Stories zwar aus der Rückschau fest, wird aber durch Zeitzeugen bestätigt: Die Hofdiener Carl Wilhelm Heinrich von Lynker und Karl Siegmund von Seckendorf­f etwa oder Dichter Johann Heinrich Voß, der schon 1776 seiner Frau schreibt: „In Weimar geht es erschreckl­ich zu, der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche in den Dörfern rum, er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.“

Die aus solchen Orgien entstehend­en, sogenannte­n „KegelKinde­r“des Herzogs verteilt Goethe im Auftrag seines Herren an Förster und Jäger, einmal auch an seinen besten Freund Karl-Ludwig von Knebel. Und bei Anna Amalia im Literatenz­irkel sinnieren die triebgeste­uerten Machos dann gern darüber, dass „man in hiesiger Gegend so wenig erträglich­e Gesichter unter den Bauernmäde­ln fände.“Wieland vermutet, es läge an ihrem übermäßige­n Kuchenkons­um, Goethe hingegen doziert, die Unsitte, Lasten auf dem Rücken zu tragen, bringe platte Physiognom­ien hervor. Sofern Goethe eine solche zeitweilig selbst hat, dann liegt’s daran, dass er sich auf seinen Landpartie­n regelmäßig mit dem Kammerherr­n von Einsiedeln so heftig prügelt, bis Blut fließt, verrät Böttiger.

Der Schulrekto­r mit journalist­ischer Ader wohnt am heutigen Herderplat­z, gleich neben der prächtigen, weißen Kirche „St. Peter und Paul“, für die der Herzog im Jahre 1776 Johann Gottfried Herder zum Generalsup­erintenden­ten und ersten Prediger bestellte. Goethe selbst – nach seinem Eintreffen zunächst auch am Herderplat­z wohnhaft – zieht im selben Jahr ins Gartenhaus im Ilmpark, das er kauft – angeblich. Denn in Wahrheit muss der von Goethe drangsalie­rte Geheime Rat Bertuch die 600 Taler Kaufpreis aus der Schatulle des Herzogs verbuchen. Wenig später wird in Weimar Goethes FKK-Neigung ruchbar: Verschreck­te Spaziergän­ger sehen ihn nackt in die Ilm springen, raunt man sich im Städtchen zu.

Klatschrep­orter Böttiger schreibt zu Lebzeiten zwar für drei Journale, veröffentl­icht solche Geschichte­n dort aber nicht, sondern tratscht sie in Weimar herum, sehr zum Verdruss aller Literaten. „Arschgesic­ht“und „Vogelscheu­che“nennen sie ihn. Für Goethe ist Böttiger – nach anfänglich­er Zusammenar­beit „einer der gründlichs­ten Schufte, die Gott erschuf“. 1804 wird Böttiger nach Dresden verdrängt. Seine aufgezeich­neten Skandale und Klatschges­chichten kann er nicht publiziere­n, sie sind sämtlichen Verlegern zu heikel. Böttigers Sohn bringt das Buch 1838 dann heraus – stark entschärft und unter dem Tarn-Titel „Literarisc­he Zustände und Zeitgenoss­en“. Die ungekürzte Fassung erscheint erst im Jahr 1998 – unter anderem mit einer Beschreibu­ng Goethes, die so gar nicht zu den noblen, von ihm bekannten Bildnissen passt: „Ekelhaft gelb im Gesicht, keine Haare mehr am Kopf. Seine Augen sitzen im Fett der Backen, er selbst in niedergetr­etnen Pantoffeln und herabhänge­nden Strümpfen im Lehnstuhl.“

’’ Ekelhaft gelb im Gesicht, keine Haare mehr am Kopf. Seine Augen sitzen im Fett der Backen, er selbst in niedergetr­etnen Pantoffeln und herabhänge­nden Strümpfen im Lehnstuhl. Karl August Böttiger über Johann Wolfgang von Goethe

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FOTO: BURZIK/KLASSIK STIFTUNG WEIMAR Ein Porträt von Karl August Böttiger zeigt den Chronisten 1815.

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