Kleinkinder haben Probleme mit Gemüse
Ein Kinderarzt erklärt, warum Kinder Gesundes nicht mögen.
- Anlässlich des 60jährigen Bestehens des Kinderschutzbunds Tuttlingen wird am Dienstag, 19.30 Uhr der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster in der Tuttlinger Stadthalle über das Thema „Kinder verstehen – Wie die Evolution unsere Kinder prägt“referieren. Redakteurin Anja Schuster hat im Vorfeld mit ihm darüber gesprochen, was unsere evolutions-biologische Geschichte damit zu tun hat, dass Kinder kein Gemüse mögen und nicht alleine einschlafen.
Herr Renz-Polster, wenn Sie sagen, dass Kinder mit „evolutionärem Gepäck“auf die Welt kommen, was meinen Sie damit?
Wir als Eltern blicken immer in die Zukunft unserer Kinder und vergessen dabei unsere Vergangenheit. Doch unsere Kinder kommen mit bestimmten Programmen auf die Welt, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Diese haben zum Beispiel zur Folge, dass Kleinkinder in einem gewissen Alter Gemüse mit Skepsis verzehren, wenn überhaupt. Kinder sind nicht grenzenlos formbar.
Und was hat Gemüse mit unserem „evolutionären Gepäck“zu tun?
Wir haben in 99 Prozent der Menschheitsgeschichte als Jäger und Sammler gelebt. Und in dieser Zeit mussten Kinder lernen, was vor Ort verfügbar und essbar ist. Solange sie auf dem Schoß von Mama und Papa gefüttert werden, ist das kein Problem. Die Schieben ihnen ja keine Tollkirsche in den Mund (lacht). Sobald sie aber selbstständig werden, wird es problematisch. Das Prinzip Versuch und Irrtum ist in diesem Fall schließlich keine gute Idee. Daher müssen sich Kinder ein Schutzschild hochziehen und essen nur noch das, was sie kennen. Und damit nicht genug, sie meiden auch alles, was bitter ist, da ein bitterer Geschmack darauf hindeutet, dass etwas giftig ist.
Es ist also kein Wunder, wenn Kinder lieber Schokolade und Pommes essen?
Nein, das ist ganz normal. So im Alter von zwei Jahren verändern sich die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge eines Kindes. Das ist unser chemisches Analysegerät. Bitteres wird jetzt viel bitterer empfunden. Daher haben viele Kinder so im Alter zwischen zwei und vier Jahren ihr Problem mit Gemüse.
Aber anbieten sollte man es ihnen dennoch? Ich kann ja mein Kind nicht nur von Fettigem und Süßem ernähren.
Ja, auf jeden Fall anbieten, aber nicht zum Essen zwingen. Die Kinder lernen am Vorbild von anderen. Also, was isst mein Gegenüber und wie geht es ihm dabei. Die Forschung zeigt, dass Kinder etwa acht bis 15 sogenannte positive Beobachtungsmomente brauchen, um zu speichern, dass ein Lebensmittel essbar ist. Hat die Mama beim Verzehr von Rosenkohl keine Sorgenfalten im Gesicht, dann kann man es ja mal probieren.
Welche andere kindliche Eigenarten lassen sich auf unsere evolutionäre Geschichte zurückführen?
Zum Beispiel, dass Kinder nicht alleine einschlafen wollen. Schlaf ist für den Menschen eine gefährliche Sache, wir fallen in eine Art Koma und können uns nicht wehren, wir sind ausgeliefert. Und weil wir das wissen, können wir erst schlafen, wenn wir uns sicher fühlen. Und was macht ein Kind, um sich sicher zu fühlen? Es stellt sicher, dass jemand da ist, der für seine Sicherheit sorgt. Also in der Regel Mama oder Papa.
Das heißt, ich verweichliche mein Kind nicht, wenn ich bei ihm bleibe, bis es eingeschlafen ist?
Nein. Kinder lernen dadurch, dass ihr Bett eine sichere Zone ist. Die Selbstständigkeitsentwicklung wird dadurch nicht behindert. Kinder wollen vorankommen und irgendwann lernen sie, dass Mama und Papa nicht immer im gleiche Raum sein müssen und trotzdem für sie da sind.
Das klingt nach einem spannenden Thema. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich mache das schon seit 15 Jahren. Damals war ich in der Forschung tätig und habe mich mit der Frage beschäftigt, warum ein Kind in der modernsten und gesündesten Welt, die wir je hatten, dennoch Allergien bekommt. Ein Erklärungsansatz war, dass Kinder heute in eine andere Umwelt geboren werden, als sie evolutionär-biologisch erwarten. Das hat mich darauf gebracht, dass alle kindliche Entwicklungsschritte damit zusammenhängen.
Und am Dienstag, werden Sie darüber sprechen?
Genau, ich werde etwa 70 Minuten sprechen und dann können die Zuhörer noch Fragen stellen.