Tod in der Zelle: „Das vergisst man nicht“
Wie können suizidgefährdete Gefangene erkannt und geschützt werden?
(dpa) - Fast 1400 Häftlinge haben sich in deutschen Gefängnissen innerhalb von 20 Jahren das Leben genommen – ganz überwiegend Männer. Das geht aus einer Statistik des Bundesamts für Justiz von 1998 bis 2017 hervor. Die meisten Suizide pro Jahr gab es im Jahr 2000 mit 112 – die wenigsten (50) im Jahr 2013. Das Gros der Gefangenen starb durch Erhängen. „Es ist immer eine Katastrophe“, beschreibt der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg die Folgen eines Suizids für Strafvollzugsbedienstete und Mithäftlinge. „Das vergisst man nicht“, sagt auch René Müller, der Vorsitzende des Bundesverbands der Strafvollzugsbediensteten.
Suizidprävention im Strafvollzug halten die Fachleute für ganz wichtig. „Der Suizid lässt sich aber nicht in jedem Fall verhindern, wenn ich menschenwürdige Bedingungen behalten will“, sagt die Gründerin und langjährige Leiterin der Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug, Katharina BennefeldKersten. In dem Gremium sind alle Bundesländer vertreten.
Fast jeder Vierte (22 Prozent), der sich hinter Gittern umbringt, habe ein Tötungsdelikt begangen, 16 Prozent ein Sexualdelikt, sagt die Psychologin, Buchautorin und langjährige Anstaltsleiterin. Von den knapp 1400 Häftlingen, die sich das Leben nahmen, hätten 167 zuvor einen Selbstmordversuch in der Haft unternommen.
Müller hat vor 18 Jahren selbst einen Häftling in einer Gefängniszelle gefunden, der sich erhängt hatte. „Jedes Mal, wenn ich an der Zelle vorbei gehe, sehe ich alle Einzelheiten – noch heute“, sagt er. Strafvollzugsbedienstete seien ausgebildet, darauf zu achten, wenn ein Gefangener labil oder depressiv sei. „Dann wird sich intensiv darum gekümmert oder man spricht mit den Psychologen.“Allerdings sei dafür ausreichend Personal notwendig, betont Müller. „Wir haben aber überall Vakanzen im Justizvollzug.“
Ein solcher Tod stelle im Gefängnis mitunter die „ganze Abteilung auf den Kopf“, berichtet Egg. Um jeden Zweifel von Fremdverschulden auszuräumen, sei eine rechtliche Aufarbeitung notwendig. Das Menschliche der Selbsttötung gehe aber viel tiefer.
Suizidabsichten seien aber nicht immer zu erkennen, sagt der Kriminalpsychologe. „Ganz sicher kann man nie sein.“Ein Häftling könne suizidale Gedanken verschweigen. „Oder er kriegt eine Nachricht, die plötzlich seine Stimmung kippen lässt.“Dies lasse sich nicht nach jedem Telefonat, Brief oder Besuch überprüfen – und ein Häftling könne auch nicht rund um die Uhr überwacht werden. „Wenn die Frau zu Besuch kommt und sich trennen will“, beschreibt Fachfrau Bennefeld-Kersten eine besonders brenzlige Situation. Sie weiß auch: „Wenn sich jemand mit Suizidgedanken beschäftigt und nicht will, dass das bekannt wird, wird es nicht bekannt.“
Es gebe in der Haft aber eine Reihe von Situationen, in denen besonders aufgepasst werden müsse. Die Aufnahme des Häftlings sei die erste. Auslöser für eine Selbsttötung könne auch sein, wenn die Anklageschrift kommt oder der Prozess beginnt. Vor allem wenn Medien darüber berichteten, denn dann sei der Tatvorwurf öffentlich für Angehörige, Nachbarn und Mitgefangene. Auch die Verurteilung selbst könne riskant sein – insbesondere wenn der Täter nicht mit einer hohen Strafe gerechnet habe.
Was können Gefängnisse bei einen Suizidverdacht tun? Eine gemeinschaftliche Unterbringung mit einem ruhigen und stabilen Häftling als soziale Unterstützung könne helfen, sagt Bennefeld-Kersten. „Wenn er hoch gefährdet ist, reicht das aber nicht, dann darf er niemals allein bleiben.“Strafvollzugsbedienstete könnten einem Häftling auch gefährliche Gegenstände entziehen. Ein gefährdeter Häftling kann auch in bestimmten Abständen zeitlich überwacht werden. „Das macht sie aber auch wuschig, spätestens wenn sie schlafen wollen.“Ständige KameraÜberwachung sei ebenfalls möglich und weniger einschneidend als die belastende Unterbringung in einem besonderen gesicherten Haftraum.
Einige Gefängnisse hätten zur Suizidprävention spezielle Hafträume, meist direkt neben dem Stationszimmer, berichtet Bennefeld-Kersten. In diesen Hafträumen gebe es nichts, womit sich die Häftlinge erhängen könnten, und sie würden durch offene Scheiben beobachtet, könnten aber auch den Vorhang mal zuziehen.
„Gespräche mit den Gefangenen sind das Allerwichtigste“, sagt die Expertin. Alle Entscheidungen über ihre Unterbringung müssten ihnen nachvollziehbar mitgeteilt werden. So könnten sich die Häftlinge vor Willkür sicher fühlen.