Wie aus „Irren“Patienten wurden
Tagung über 200 Jahre Psychiatriegeschichte in Oberschwaben
(bami) - „Irrsinn“in Oberschwaben – unter diesem etwas flapsig klingenden Titel blickte eine historische Tagung auf 200 Jahre Psychiatriegeschichte in der Region zurück. Eingeladen hatten die Gesellschaft Oberschwaben sowie die Landkreise Biberach und Ravensburg nach Bad Schussenried. Der Tag mit Vorträgen im barocken Bibliothekssaal des Klosters, in dem sich seit 1875 eine Einrichtung für psychisch Kranke befindet, zeigte, wie vielschichtig und groß das Thema ist.
Warum gibt es in Oberschwaben so viele psychiatrische Einrichtungen? Wie haben sich mit der Entwicklung der Medizin und der Gesellschaft auch die Begriffe für die „Tollen“, „Irren“, „Geistes- und Gemütskranken“bis zur großen Psychiatrie-Enquete 1975 verändert?
Professor Thomas Müller, Arzt, Historiker und Leiter des Forschungsbereichs für Geschichte der Medizin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weißenau, vermittelte in seinen Beiträgen einen ersten Eindruck, wie lang der Weg war, bis aus „Irren“Patienten wurden und welchen Bruch der Nationalsozialismus darstellt. Stichwort: „Euthanasie“. Auch die drei oberschwäbischen „Heilanstalten“beteiligten sich an der „Vernichtung unwerten Lebens“: Aus Schussenried wurden 619 Patienten in die Tötungsanstalt Grafeneck überwiesen, aus Weißenau 691 und aus Zwiefalten 1500. An diese „Aktion T4“, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, erinnert seit 1988 eine Bodenplatte. Das Denkmal der „Grauen Busse“ist noch viel jünger. Wie lange es gedauert hat, bis die Erinnerungskultur sich auch diesen Opfern zuwandte, wurde bei Thomas Stöckle und Nils Bambusch deutlich.
1812 wurde in Zwiefalten eine „Staatsirrenanstalt“eingerichtet, 1875 in Schussenried eine Heil- und 1892 in Weißenau eine Pflegeanstalt. Alle drei in ehemaligen Klöstern, alle drei im abgeschiedenen Oberschwaben. Wegsperren, verwahren, war das Prinzip. Ende des 19. Jahrhunderts trat der Wandel hin zur Therapie ein, berichtete Bernd Reichelt.
Für Thomas Müller geschieht während des Ersten Weltkriegs die „erste Zäsur der Psychiatriegeschichte“. Denn 40 Prozent der Patienten in Heilanstalten sterben zwischen 1914 und 1918 an Hunger! Die traumatisierten Heimkehrer werden als „Kriegszitterer“mit grässlichen Methoden wie der „Kehlkopf-Therapie“(den Hals zudrücken, bis die Luft wegbleibt) gequält und als Simulanten diffamiert, die sich nur eine Rente erschleichen wollten.
Jürgen Kniep, Kreisarchivar von Biberach, fragte, wie man auf dem Dorf mit den „Idioten“umgegangen sei. Am Beispiel einer Göffinger Familie von 1900 bis 1950 kommt er zu dem Schluss, dass es mit der „dörflichen Gemeinschaft“so weit nicht nicht her war : „Soziale Devianz wurde in den 1930er-Jahren auch auf dem Dorf kriminalisiert.“