Alles immer wilder
Im Turnen purzeln die Rekordschwierigkeiten – aber was macht das mit dem Sport?
- Elisabeth Seitz wusste, dass sie volles Risiko gehen muss. Beim Gerätefinale der Turn-Weltmeisterschaft am Stufenbarren blieb der 25-Jährigen auch gar nichts anderes übrig. Zu stark war die Konkurrenz, zu spektakulär die Übungen der anderen sieben Stufenbarren-Finalistinnen. Seitz wusste: Mit einer normalen Übung hat sie keine Chance auf eine Medaille – selbst wenn sie die perfekt turnt. Und die Medaille war schließlich das Hauptziel. Irgendeine. Bloß nicht wieder dieser undankbare vierte Platz wie 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio.
Und so riskierte die deutsche TopTurnerin im Gerätefinale am Stufenbarren alles, turnte eine Übung, von der sie wusste, dass sie auch schiefgehen konnte – und musste bei einer Verbindung vom oberen zum unteren Holm absteigen. Das gibt mindestens einen Punkt Abzug. Die Medaille war damit weg. Mit 13,566 Punkten wurde sie am Ende Achte und Letzte im Finalfeld. „Es war der richtige Weg zu sagen, ganz oder gar nicht“, sagte sie wenig später. „Das war mein Hintergedanke. Über Platz vier oder fünf hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht mehr gefreut. So ist das halt im Turnen. Man hat nur diese eine Chance. Und man muss als Sportler wissen, dass es, wenn man ein Risiko eingeht, halt auch schiefgehen kann.“
Elisabeth Seitz kennt die Spielregeln. Seit der internationale Turnverband vor 13 Jahren seine Wertungsvorschriften änderte, den Code de Pointage, gibt es in den Punktzahlen keine Grenzen mehr nach oben. „Letztes Jahr hab ich mit 14,6 Punkten Bronze gewonnen“, sagt sie. „Damit wäre ich dieses Jahr nicht einmal ins Finale gekommen. Also man sieht schon, es wird immer extremer. Und ich glaube, das hört nicht auf.“Wer als Turner immer waghalsigere Elemente turnt, erhöht den Ausgangswert seiner Übungen. Die Bilder der immer spektakuläreren Sprünge, der komplizierten Kombinationen aus Salti und Schrauben, sollen das Turnen im Wettbewerb der Sportarten um die Publikumsgunst punkten lassen. Risiko ist seither Pflicht – zumindest für jene, die in der Weltspitze turnen wollen.
Olympiasieger und WM-Botschafter Fabian Hambüchen hat sich allen voran zum Kritiker des Systems erklärt. Im Gegensatz zu Seitz und den anderen deutschen Turnern ist er noch mit dem Wertungssystem mit der Höchstnote 10,0 aufgewachsen. Er beklagt seit Jahren, dass das heutige, nach oben offene Punktsystem die Turner zu immer größeren Schwierigkeiten treibe. Zwar basiert die Benotung jeder Übung weiterhin auf einer möglichen 10,0 für die perfekte Ausführung, schraubt sich aber durch die Addition der technischen Schwierigkeiten der Übung immer weiter nach oben – je komplexer, desto höher der Ausgangswert und damit die Siegchance.
„Es wird alles immer wilder, die Turner packen immer mehr Schwierigkeiten in ihre Übungen – das Streben nach der Ästhetik und der sauberen Ausführung einer Übung, kommt mir dabei zu kurz“, sagte Hambüchen gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“. „Die Grundwerte des Turnens treten immer mehr in den Hintergrund. Das saubere Turnen, die Eleganz und gymnastische Elemente zählten immer weniger.“
Profiteurin des Systems ist etwa Turn-Superstar Simone Biles. Das Kraftpaket aus den USA übertrifft sich seit Jahren immer wieder selbst. Mit immer noch spektakuläreren Elementen holte Biles bei der WM in diesem Jahr gleich fünf Goldmedaillen. Hambüchen betont, dass ihr spektakulärer Triple-Double am Boden sehr viel mit den Grundwerten des Turnens zu tun habe: „Das ist technisch hoch anspruchsvoll – aber auch im Frauenturnen gibt es die Tendenz zu immer mehr Show.“
Seitz gibt nicht auf
Die Zuschauer in Stuttgart wussten die Show durchaus zu schätzen. Die WM, die am Sonntag zu Ende ging, war ein großer Erfolg. 102 000 Besucher kamen – auch wegen Simone Biles und ihrem Triple Double. Stuttgart habe den Ruf als „Hauptstadt des Turnens“bestätigt, sagte Bürgermeister Martin Schairer stolz. Präsident Wolfgang Drexler vom Schwäbischen Turnerbund kündigte an, dass sich die Stadt in zehn Jahren erneut als Ausrichter bewerben wolle. „Bis dahin brauchen wir aber eine zeitgemäße und moderne Halle.“Die SchleyerHalle ist in die Jahre gekommen.
Bei der nächsten WM in Stuttgart wäre auch das Wertungssystem dann ein anderes. Der Weltverband FIG entwickelt gerade neue Vorschriften, die nach den Olympischen Spielen 2020 in Tokio zum Tragen kommen sollen. Wie genau die aussehen, ist offen. Aber zuerst steht noch Olympia an. Elisabeth Seitz will in Tokio den Traum von der Medaille am Stufenbarren endlich wahr machen. Mit welcher Übung, weiß sie noch nicht. Sicher ist aber schon jetzt: Auch dort wird das Finale spektakulär. „Die anderen werden da sicher noch drauflegen. Um ehrlich zu sein, will ich manchmal gar nicht wissen, was da gerade alles noch trainiert wird.“