Heuberger Bote

Geboren im „Gefühlskle­id der Urzeit“

Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärt Eltern-Kind-Konflikte evolutions­biologisch

-

(hör) - Sie schlafen schlecht, essen ihr Gemüse nicht und haben Wutausbrüc­he. Warum sind Kinder so? Nicht aus böser Absicht, versichert­e Kinderarzt Herbert Renz-Polster am Dienstagab­end in der Stadthalle. Er begründet viele Eltern-Kind-Konflikte mit unserem „evolutions­biologisch­en Gepäck“.

Anlässlich seines 60. Geburtstag­s hatte der Tuttlinger Ortsverein des Kinderschu­tzbundes, in Kooperatio­n mit der Volkshochs­chule, zu Renz-Polsters Vortrag eingeladen. Der Kinderarzt, Wissenscha­ftler und Vater von vier Kindern warb mit Verstand und Humor dafür, unseren Kindern eine „innere Heimat“als sicheres Fundament für die heute noch nicht abschätzba­ren Anforderun­gen ihrer Zukunft mitzugeben – und das ohne die Angst, sie dabei zu verwöhnen.

Im Plauderton nahm Renz-Polster seine Zuhörer und, überwiegen­d Zuhörerinn­en, auf Ausflüge in die Frühgeschi­chte unserer Spezies mit. Dabei zeigte er eindrückli­ch: Viele Eltern-Kind-Konflikte beruhen auf dem Spannungsv­erhältnis zwischen den kindlichen Ur-Bedürfniss­en nach Sicherheit und Versorgt-seinWollen und dem elterliche­n, intellektu­ellen, Streben nach Erziehung zur Autonomie.

Schlaf etwa sei in unserer Frühgeschi­chte ein lebensgefä­hrlicher Zustand gewesen: Umzingelt von Fressfeind­en, sei gerade für Kleinkinde­r überlebens­wichtig gewesen: „…dass einer da ist, der für ihre Sicherheit sorgt“. „Unsere Kinder haben noch das Gefühlskle­id aus dieser Zeit“, sagte Renz-Polster. Selbst als Erwachsene müssten wir noch „die einprogram­mierte Sequenz: Müdigkeit – Suche nach Sicherheit – Entspannun­g – Schlaf“durchlaufe­n, um in den Schlaf zu finden. Deshalb appelliert­e Renz-Polster dringend, den Kindern die benötigte Sicherheit beim Einschlafe­n durch die Nähe der Bezugspers­on zu geben.

Als weiteres Relikt aus Urzeiten führte Renz-Polster die evolutions­biologisch­en Vorzüge des langen Stillens aus: Muttermilc­h sicherte bereits den Kindern unserer Vorfahren auch zu Hungerzeit­en ein konstantes Nahrungsan­gebot für das bis zum dritten Jahr rasant wachsende Gehirn. Renz-Polster rät, sich beim Zufüttern von Beikost nicht allzu sehr gängeln zu lassen. Ein LangzeitEx­periment hätte gezeigt, dass Kinder, die ihre Nahrungsmi­ttel frei wählen konnten, sich ganz anders ernährten, als wir Erwachsene­n für sinnvoll erachten – ohne Schaden zu nehmen. Gerade mit unseren modernen, fast allesamt leicht bitteren, Gemüsesort­en hätten Kleinkinde­r oft Probleme: „Die Geschmacks­knospen für „bitter“explodiere­n bis zum dritten Lebensjahr – weil sie in der Natur ein Warnsignal für „giftig“sind“, erklärte Renz-Polster. Überhaupt werde, als urzeitlich­e Überlebens­technik, unbekannte­s Essen erst einmal kritisch beäugt. Nur mehrfache positive Reaktionen bekannter Personen auf „verdächtig­e“Nahrungsmi­ttel könnten Kinder schließlic­h zum Probieren veranlasse­n.

Unreifer als alle anderen Tierkinder kämen unsere Babys zur Welt, erklärte Renz-Polster. Mit einem Gehirn, das erst ein Drittel des Umfangs eines Dreijährig­en hätte, noch lange völlig schutzlos ohne Versorger, und überaus bedürftig nach Nähe – die sie noch zu unserer Halbnomade­nZeit durch langes Herumgetra­genWerden automatisc­h erhielten. „Sie suchen Nähe, aber wir müssen keine Angst davor haben“, sagte RenzPolste­r. Keine Angst davor, die Kinder zu verwöhnen, und keine Angst, durch ständiges Nachgeben kleine Tyrannen heranzuzie­hen. Vielmehr lade die vermittelt­e Ur-Sicherheit die Batterie unserer Kinder soweit auf, dass sie – ausgestatt­et mit Mut, Neugierde und sozialer Kompetenz – den Aufbruch in ihre eigene Zukunft selbststän­dig schaffen können.

 ?? FOTO: ?? Auch der Humor kam nicht zu kurz beim Vortrag des Kinderarzt­es Herbert Renz-Polster in der Stadthalle.
FOTO: Auch der Humor kam nicht zu kurz beim Vortrag des Kinderarzt­es Herbert Renz-Polster in der Stadthalle.

Newspapers in German

Newspapers from Germany