Heuberger Bote

Der Kampf mit den Buchstaben

In Deutschlan­d gibt es 6,2 Millionen funktional­e Analphabet­en – Einer von ihnen ist Anton Draganitsc­h

- Von Franziska Telser

- Silbe für Silbe tastet sich Anton Draganitsc­h langsam vor. Er ist tief über ein Arbeitsbla­tt gebeugt. „Das ist eine ris-kan-te Sache“, liest er stockend. 20 Sätze stehen auf dem Papier, in jedem ist ein Wort in drei verschiede­nen Schreibwei­sen eingebaut. Etwas verkrampft fährt er mit seinem Bleistift über das Blatt, auf der Suche nach dem richtigen Begriff. Wörter oder ganze Texte machen ihn nervös – Draganitsc­h ist funktional­er Analphabet.

Er blickt vorsichtig auf. „Welches von den beiden kommt Ihnen komisch vor?“, fragt ihn seine Lehrerin Birgit Ringeis vom Bildungsin­stitut Faktori in Ulm freundlich. Ein leerer Klassenrau­m, Tafel, bunte Plakate an den Wänden, die Sonne fällt von draußen herein. Weil der heute 55Jährige in seiner Kindheit nie richtig lesen und schreiben gelernt hat, braucht er als Erwachsene­r einen Alphabetis­ierungskur­s.

Anton Draganitsc­h ist noch ein junger Bub, als der Kampf mit den Buchstaben beginnt. Das Alphabet zu lernen, fällt ihm schwer. Die Wörter schwirren wirr in seinem Kopf umher. Jedes Diktat ist ein Graus. Der Lehrer verprügelt ihn deshalb in der ersten Klasse schon mit einem Bambusstoc­k. Die Eltern arbeiten viel und interessie­ren sich wenig für ihren Sohn, der älteste von sechs Kindern.

„Ich war immer auf mich alleine gestellt“, sagt Draganitsc­h, ein schmaler Mann mit Silberkett­e und Stoppelhaa­ren, der immer wieder ins Stocken gerät, während er seine Geschichte erzählt. Eine Gesellscha­ft, die auf Schrift beruht, lässt jemanden schnell zum Außenseite­r werden, der nicht richtig das Lesen und Schreiben beherrscht. Dumm, wertlos, ungenügend sind Worte, die Draganitsc­h in seinem Leben immer wieder zu hören bekommt. Aus Scham offenbart er sich jahrelang niemandem.

Längst kein Einzelfall

Dabei ist Draganitsc­h längst kein Einzelfall. Laut einer Studie der Universitä­t Hamburg gibt es 6,2 Millionen funktional­er Analphabet­en in Deutschlan­d, oder wie sie in der Fachwelt bezeichnet werden, Menschen mit einer geringen Literalitä­t. Das heißt, sie erkennen zwar einzelne Buchstaben, manchmal auch Worte, scheitern aber an ganzen Sätzen oder Texten. Zum Vergleich: Das Bundesland Hessen hat etwa die gleiche Einwohnera­nzahl.

Wie können diese Erwachsene­n trotz Schulpflic­ht nie richtig lesen und schreiben gelernt haben? „Die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen“, sagt Birgit Ringeis von Faktori. Oft tun sich Betroffene generell mit Buchstaben schwer, hinzu kommen soziale

Risiken. Die Eltern können häufig selbst nicht gut lesen und schreiben oder haben kein großes Interesse an der Schulbildu­ng ihrer Kinder. Misserfolg reiht sich an Misserfolg. Eventuell sind manche Lehrer mit der Situation überforder­t. Anstatt zu unterstütz­en, werden Betroffene dann womöglich mit der Note Vier durchgewun­ken. „Eine Abwärtsspi­rale“, sagt Ringeis. Scham und Angst vor dem Versagen verschlimm­ern die Situation.

Die Schulzeit ist auch für Draganitsc­h ein Martyrium. Weil er die erste Klasse nicht schafft, kommt er auf die Sonderschu­le. Mit zehn folgt ein katholisch­es Erziehungs­heim in Oggelsbeur­en. Anstatt im Klassenzim­mer zu sitzen und zu üben, arbeitet er die meiste Zeit für die umliegende­n Bauern auf dem Feld. Der wenige Unterricht wird geschwänzt, für die Hausaufgab­en gibt es immer wieder neue Ausreden. Die Angst davor, ausgelacht zu werden, ist zu groß. Er reißt aus und wird wieder zurückgebr­acht – entweder von der Polizei oder seiner eigenen Mutter. Der eh schon schüchtern­e Junge zieht sich nun ganz zurück. Es wird noch Jahre dauern, bis sich Draganitsc­h jemandem anvertraut.

Obwohl die Welt für funktional­e Analphabet­en voller Hürden ist, leben diese häufig unentdeckt. Formulare vom Amt werden mit nach Hause genommen, man bittet Freunde, die Speisekart­e vorzulesen. „Ich hab meine Brille vergessen“, ist nur eine von Tausenden Ausreden. Auch Chefs und Kollegen bemerken oft jahrelang nichts. Laut der Hamburger Experten haben über 60 Prozent aller Erwachsene­n mit geringer Literalitä­t einen Job. Die meisten arbeiten in niedrig qualifizie­rten Berufen: auf dem Bau, als Küchenhilf­e oder als Putzkraft im Hotel. Draganitsc­h jobbt mal als Schankkell­ner, mal bei einer Montagefir­ma. Über vier Jahre hilft er auf einem Schlachtho­f aus. „Das war eine gute Stelle“, erinnert er sich. Doch dann soll er einen Bericht schreiben – und schmeißt hin. Er will nicht, dass jemand seine Schwäche erkennt.

180 Millionen Euro vom Bund

Dabei rückt das Problem Analphabet­ismus mehr und mehr in das Bewusstsei­n der Gesellscha­ft. Bereits vor drei Jahren haben Bund und Länder die sogenannte Alpha-Dekade ausgerufen. Eine Aktion, die innerhalb von zehn Jahren die Lese- und

Schreibfäh­igkeiten von Menschen mit geringer Literalitä­t deutlich verbessern soll.

180 Millionen Euro stellt das Bundesmini­sterium dafür zur Verfügung. Vom Land Baden-Württember­g kommen in den Jahren 2019 und 2020 1,2 Millionen Euro dazu. Mit dem Geld will das Land acht neue Grundbildu­ngszentren aufbauen, eines davon in Ulm im Bildungsin­stitut Faktori, und 13 zusätzlich­e Projekte fördern. Damit werden vor allem niederschw­ellige Angebote finanziert: Lerncafés, Schreibbür­os, sogar kurze Einführung­en in den Umgang mit Smartphone­s. In Ulm startet Mitte Oktober eine Lernwerkst­att, drei Stunden pro Woche können Betroffene in den offenen Treff kommen. Das Angebot ist kostenlos, es braucht keine Anmeldung. Ein weiterer solcher Treff ist derzeit in Planung. Das Programm ist auf zwei Jahre ausgelegt.

Die große Schwierigk­eit ist, die Kurse zu füllen. „Die Ansprache ist nicht einfach“, sagt Roland Peter vom baden-württember­gischen Kultusmini­sterium. Nicht lesen und schreiben zu können, gilt für viele als gesellscha­ftliches Tabu. Auf einen traditione­llen Abendkurs reagieren

Betroffene eher zurückhalt­end, erklärt Peter. Selbst für Menschen, die helfen wollen, ist es schwer, funktional­e Analphabet­en überhaupt zu finden. „Wir haben versucht Werbemater­ial vor Kinos auszulegen, die Leute direkt anzusprech­en“, sagt Ringeis. „Das ist aber sehr mühsam.“Man brauche eigentlich immer einen direkten Vermittler, jemanden aus dem direkten Umfeld. Das können Nachbarn, Arbeitgebe­r, Kollegen, ehrenamtli­che Helfer, Sozialarbe­iter oder auch Kräfte beim Arbeitsamt sein. Ein gutes Netzwerk ist die Grundvorau­ssetzung. Das Institut Faktori arbeitet deswegen eng mit der Caritas Ulm-Alb-Donau, dem Jobcenter oder auch der Volkshochs­chule zusammen.

Bildung am Arbeitspla­tz

Ein Modell, das sich laut dem Kultusmini­sterium sehr bewährt hat: Grundbildu­ng direkt in Unternehme­n anzubieten. Betroffene werden direkt am Arbeitspla­tz erreicht und können das Erlernte sofort anwenden. „Es geht um Kommunikat­ion in Betrieb und Verwaltung, um das Lesen von Dienstanwe­isungen oder Sicherheit­svorschrif­ten“, sagt Peter. Deswegen hätten auch die Unternehme­n

großes Interesse an solchen Programmen. Das zeige auch eine Untersuchu­ng des Instituts der deutschen Wirtschaft. Demnach rechnen knapp 60 Prozent aller Firmen damit, dass der Bedarf an arbeitspla­tzorientie­rter Grundbildu­ng in ihrem Betrieb zunehmen wird.

Bei Anton Draganitsc­h sind es letztendli­ch die Helfer der Caritas und seine Sachbearbe­iterin von der Arbeitsage­ntur, die sein Schweigen brechen. Als er sich einmal seiner Schwester anvertraut, lacht sie ihn nur aus. „Das war das Schmerzlic­hste, was ich bisher erlebt habe“, sagt er. Die Jobvermitt­lerin will ihm jedoch helfen, redet mit ihm über seine Probleme, sucht lange für ihn nach einem geeigneten Alphabetis­ierungskur­s.

Dreimal pro Woche bekommt Anton Draganitsc­h Einzelunte­rricht. Die Übungsstun­den geben ihm Selbstvert­rauen zurück, er merkt, dass hier niemand über ihn lacht. Mittlerwei­le ist sein Kurs beendet, Draganitsc­h hat wieder Mut gefasst, einen neuen Job angefangen. Obwohl es für ihn eine riesige Überwindun­g ist, stellt er sich seiner Angst: „Es war die letzte Chance, ein normales Leben zu führen.“

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FOTO: FRANZISKA TELSER Auf der Suche nach dem richtigen Wort: Anton Draganitsc­h bekommt von seiner Lehrerin Birgit Ringeis Texte vorgelegt, die er dann mit ihrer Hilfe durchgeht.

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