Der Kampf mit den Buchstaben
In Deutschland gibt es 6,2 Millionen funktionale Analphabeten – Einer von ihnen ist Anton Draganitsch
- Silbe für Silbe tastet sich Anton Draganitsch langsam vor. Er ist tief über ein Arbeitsblatt gebeugt. „Das ist eine ris-kan-te Sache“, liest er stockend. 20 Sätze stehen auf dem Papier, in jedem ist ein Wort in drei verschiedenen Schreibweisen eingebaut. Etwas verkrampft fährt er mit seinem Bleistift über das Blatt, auf der Suche nach dem richtigen Begriff. Wörter oder ganze Texte machen ihn nervös – Draganitsch ist funktionaler Analphabet.
Er blickt vorsichtig auf. „Welches von den beiden kommt Ihnen komisch vor?“, fragt ihn seine Lehrerin Birgit Ringeis vom Bildungsinstitut Faktori in Ulm freundlich. Ein leerer Klassenraum, Tafel, bunte Plakate an den Wänden, die Sonne fällt von draußen herein. Weil der heute 55Jährige in seiner Kindheit nie richtig lesen und schreiben gelernt hat, braucht er als Erwachsener einen Alphabetisierungskurs.
Anton Draganitsch ist noch ein junger Bub, als der Kampf mit den Buchstaben beginnt. Das Alphabet zu lernen, fällt ihm schwer. Die Wörter schwirren wirr in seinem Kopf umher. Jedes Diktat ist ein Graus. Der Lehrer verprügelt ihn deshalb in der ersten Klasse schon mit einem Bambusstock. Die Eltern arbeiten viel und interessieren sich wenig für ihren Sohn, der älteste von sechs Kindern.
„Ich war immer auf mich alleine gestellt“, sagt Draganitsch, ein schmaler Mann mit Silberkette und Stoppelhaaren, der immer wieder ins Stocken gerät, während er seine Geschichte erzählt. Eine Gesellschaft, die auf Schrift beruht, lässt jemanden schnell zum Außenseiter werden, der nicht richtig das Lesen und Schreiben beherrscht. Dumm, wertlos, ungenügend sind Worte, die Draganitsch in seinem Leben immer wieder zu hören bekommt. Aus Scham offenbart er sich jahrelang niemandem.
Längst kein Einzelfall
Dabei ist Draganitsch längst kein Einzelfall. Laut einer Studie der Universität Hamburg gibt es 6,2 Millionen funktionaler Analphabeten in Deutschland, oder wie sie in der Fachwelt bezeichnet werden, Menschen mit einer geringen Literalität. Das heißt, sie erkennen zwar einzelne Buchstaben, manchmal auch Worte, scheitern aber an ganzen Sätzen oder Texten. Zum Vergleich: Das Bundesland Hessen hat etwa die gleiche Einwohneranzahl.
Wie können diese Erwachsenen trotz Schulpflicht nie richtig lesen und schreiben gelernt haben? „Die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen“, sagt Birgit Ringeis von Faktori. Oft tun sich Betroffene generell mit Buchstaben schwer, hinzu kommen soziale
Risiken. Die Eltern können häufig selbst nicht gut lesen und schreiben oder haben kein großes Interesse an der Schulbildung ihrer Kinder. Misserfolg reiht sich an Misserfolg. Eventuell sind manche Lehrer mit der Situation überfordert. Anstatt zu unterstützen, werden Betroffene dann womöglich mit der Note Vier durchgewunken. „Eine Abwärtsspirale“, sagt Ringeis. Scham und Angst vor dem Versagen verschlimmern die Situation.
Die Schulzeit ist auch für Draganitsch ein Martyrium. Weil er die erste Klasse nicht schafft, kommt er auf die Sonderschule. Mit zehn folgt ein katholisches Erziehungsheim in Oggelsbeuren. Anstatt im Klassenzimmer zu sitzen und zu üben, arbeitet er die meiste Zeit für die umliegenden Bauern auf dem Feld. Der wenige Unterricht wird geschwänzt, für die Hausaufgaben gibt es immer wieder neue Ausreden. Die Angst davor, ausgelacht zu werden, ist zu groß. Er reißt aus und wird wieder zurückgebracht – entweder von der Polizei oder seiner eigenen Mutter. Der eh schon schüchterne Junge zieht sich nun ganz zurück. Es wird noch Jahre dauern, bis sich Draganitsch jemandem anvertraut.
Obwohl die Welt für funktionale Analphabeten voller Hürden ist, leben diese häufig unentdeckt. Formulare vom Amt werden mit nach Hause genommen, man bittet Freunde, die Speisekarte vorzulesen. „Ich hab meine Brille vergessen“, ist nur eine von Tausenden Ausreden. Auch Chefs und Kollegen bemerken oft jahrelang nichts. Laut der Hamburger Experten haben über 60 Prozent aller Erwachsenen mit geringer Literalität einen Job. Die meisten arbeiten in niedrig qualifizierten Berufen: auf dem Bau, als Küchenhilfe oder als Putzkraft im Hotel. Draganitsch jobbt mal als Schankkellner, mal bei einer Montagefirma. Über vier Jahre hilft er auf einem Schlachthof aus. „Das war eine gute Stelle“, erinnert er sich. Doch dann soll er einen Bericht schreiben – und schmeißt hin. Er will nicht, dass jemand seine Schwäche erkennt.
180 Millionen Euro vom Bund
Dabei rückt das Problem Analphabetismus mehr und mehr in das Bewusstsein der Gesellschaft. Bereits vor drei Jahren haben Bund und Länder die sogenannte Alpha-Dekade ausgerufen. Eine Aktion, die innerhalb von zehn Jahren die Lese- und
Schreibfähigkeiten von Menschen mit geringer Literalität deutlich verbessern soll.
180 Millionen Euro stellt das Bundesministerium dafür zur Verfügung. Vom Land Baden-Württemberg kommen in den Jahren 2019 und 2020 1,2 Millionen Euro dazu. Mit dem Geld will das Land acht neue Grundbildungszentren aufbauen, eines davon in Ulm im Bildungsinstitut Faktori, und 13 zusätzliche Projekte fördern. Damit werden vor allem niederschwellige Angebote finanziert: Lerncafés, Schreibbüros, sogar kurze Einführungen in den Umgang mit Smartphones. In Ulm startet Mitte Oktober eine Lernwerkstatt, drei Stunden pro Woche können Betroffene in den offenen Treff kommen. Das Angebot ist kostenlos, es braucht keine Anmeldung. Ein weiterer solcher Treff ist derzeit in Planung. Das Programm ist auf zwei Jahre ausgelegt.
Die große Schwierigkeit ist, die Kurse zu füllen. „Die Ansprache ist nicht einfach“, sagt Roland Peter vom baden-württembergischen Kultusministerium. Nicht lesen und schreiben zu können, gilt für viele als gesellschaftliches Tabu. Auf einen traditionellen Abendkurs reagieren
Betroffene eher zurückhaltend, erklärt Peter. Selbst für Menschen, die helfen wollen, ist es schwer, funktionale Analphabeten überhaupt zu finden. „Wir haben versucht Werbematerial vor Kinos auszulegen, die Leute direkt anzusprechen“, sagt Ringeis. „Das ist aber sehr mühsam.“Man brauche eigentlich immer einen direkten Vermittler, jemanden aus dem direkten Umfeld. Das können Nachbarn, Arbeitgeber, Kollegen, ehrenamtliche Helfer, Sozialarbeiter oder auch Kräfte beim Arbeitsamt sein. Ein gutes Netzwerk ist die Grundvoraussetzung. Das Institut Faktori arbeitet deswegen eng mit der Caritas Ulm-Alb-Donau, dem Jobcenter oder auch der Volkshochschule zusammen.
Bildung am Arbeitsplatz
Ein Modell, das sich laut dem Kultusministerium sehr bewährt hat: Grundbildung direkt in Unternehmen anzubieten. Betroffene werden direkt am Arbeitsplatz erreicht und können das Erlernte sofort anwenden. „Es geht um Kommunikation in Betrieb und Verwaltung, um das Lesen von Dienstanweisungen oder Sicherheitsvorschriften“, sagt Peter. Deswegen hätten auch die Unternehmen
großes Interesse an solchen Programmen. Das zeige auch eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft. Demnach rechnen knapp 60 Prozent aller Firmen damit, dass der Bedarf an arbeitsplatzorientierter Grundbildung in ihrem Betrieb zunehmen wird.
Bei Anton Draganitsch sind es letztendlich die Helfer der Caritas und seine Sachbearbeiterin von der Arbeitsagentur, die sein Schweigen brechen. Als er sich einmal seiner Schwester anvertraut, lacht sie ihn nur aus. „Das war das Schmerzlichste, was ich bisher erlebt habe“, sagt er. Die Jobvermittlerin will ihm jedoch helfen, redet mit ihm über seine Probleme, sucht lange für ihn nach einem geeigneten Alphabetisierungskurs.
Dreimal pro Woche bekommt Anton Draganitsch Einzelunterricht. Die Übungsstunden geben ihm Selbstvertrauen zurück, er merkt, dass hier niemand über ihn lacht. Mittlerweile ist sein Kurs beendet, Draganitsch hat wieder Mut gefasst, einen neuen Job angefangen. Obwohl es für ihn eine riesige Überwindung ist, stellt er sich seiner Angst: „Es war die letzte Chance, ein normales Leben zu führen.“