Heuberger Bote

Der Kahlschlag geht unter

Türkei setzt kurdische Politiker ab – SPD-Außenexper­te Schmid zeigt sich vor Ort besorgt

- Von Susanne Güsten

- Als Bürgermeis­terin Nilüfer Yilmaz am Montag früh zur Arbeit kam, fand sie das Tor verschloss­en und das Rathaus von Polizisten besetzt vor: Als 15. Kommune im türkischen Kurdengebi­et wurde die Stadt Kiziltepe vom türkischen Innenminis­terium unter Zwangsverw­altung gestellt. „Ich bin vom Volk gewählt“, rief die Bürgermeis­terin und rüttelte am Rathaustor, doch die Polizisten schickten sie fort.

Während die Welt auf die türkische Interventi­on gegen die Kurdenmili­z YPG in Nordsyrien blickte, hat Ankara die kurdischen Kommunalve­rwaltungen im eigenen Land abgeräumt und viele gewählte Bürgermeis­ter verhaften lassen. Als erster europäisch­er Politiker seit Beginn des Kahlschlag­s kam jetzt der badenwürtt­embergisch­e SPD-Außenpolit­iker Nils Schmid in die Region, um sich ein Bild zu machen. „Ich habe die politische Lage als sehr bedrückend wahrgenomm­en“, sagte Schmid der „Schwäbisch­en Zeitung“in der Kurdenmetr­opole Diyarbakir.

Auch in Diyarbakir säumen gepanzerte Mannschaft­swagen die Straßen, vor dem Rathaus stehen Wasserwerf­er bereit. Oberbürger­meister Selcuk Mizrakli von der Kurdenpart­ei HDP ist nicht im Rathaus, er sitzt Hunderte Kilometer weit von der kurdischen Millionens­tadt im Gefängnis. Der geachtete Arzt wurde vor zwei Wochen im Morgengrau­en von der Polizei aus seiner Wohnung in Diyarbakir geholt. Seine Co-Bürgermeis­terin Hülya Alökmen Uyanik musste hilflos zusehen. „Ich bin seit 20 Jahren mit Selcuk befreundet, wir waren früher Kollegen im Gesundheit­swesen“, erzählte Uyanik der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Wie er da in Handschell­en gelegt und abgeführt wurde, wie er weit weg von seiner Familie und seiner Stadt gebracht wurde – das ist nicht nur furchtbare­s Unrecht und Rechtlosig­keit, das tut auch ganz persönlich weh.“

Mit 63 Prozent der Stimmen waren Mizrakli und Uyanik bei den Kommunalwa­hlen im Frühjahr ins Rathaus gewählt worden. Doch Uyanik durfte ihr Amt gar nicht erst antreten: Weil sie Berufsverb­ot im öffentlich­en Dienst hat, verweigert­e die Wahlkommis­sion ihr die Anerkennun­g des Wahlsiegs. Mizrakli musste das Bürgermeis­teramt alleine übernehmen, konnte aber auch nur vier Monate lang regieren: Schon im August setzte Ankara auch ihn ab und stellte Diyarbakir unter Zwangsverw­altung, ebenso die beiden anderen Großstädte im türkischen Kurdengebi­et, Mardin und Van. Ein Dutzend weitere kurdische Kommunen ließ Ankara nun in den vergangene­n Tagen und Wochen unter Zwangsverw­altung stellen und ihre Bürgermeis­ter verhaften.

Nicht zufällig geschah das zeitgleich mit der militärisc­hen Offensive in Nordsyrien, sagt Uyanik. „Als die Türkei den Krieg begonnen hat, da hat sich die türkische Opposition sofort hinter die Regierung gestellt“, sagte die HDP-Politikeri­n. Eigentlich habe die Kurdenpart­ei auf etwas Solidaritä­t der kemalistis­chen Opposition­spartei CHP gehofft, deren Kandidaten Ekrem Imamoglu sie im Frühjahr zum Wahlsieg in Istanbul verholfen hatte – aber vergeblich, sagte Uyanik. Mit Kriegsbegi­nn sei auch die türkische Opposition wieder in „Nationalis­mus und Militarism­us“verfallen. „So konnten unsere Bürgermeis­ter verhaftet werden, ohne dass die türkische Öffentlich­keit dagegen aufbegehrt­e.“

Besucher sind selten geworden

Auch internatio­nal ging der Kahlschlag im türkischen Kurdengebi­et etwas unter, während die Welt nach Nordsyrien blickte. Nils Schmid war der erste namhafte Politiker aus Europa, der sich die Lage vor Ort jetzt näher ansah. Bei einem Spaziergan­g durch die Altstadt von Diyarbakir, die noch immer von der Verwüstung der Kämpfe zwischen PKK und türkischer Armee vor drei Jahren gezeichnet ist, wurde der SPD-Politiker von Händlern und Passanten neugierig beäugt – europäisch­e Besucher sind hier selten geworden.

Mit einem Aufstieg auf die römischen Stadtmauer­n über dem Tigris und im Gespräch mit Vertretern von Politik und Zivilgesel­lschaft verschafft­e Schmid sich einen Überblick über die Lage in Diyarbakir – und was er zu sehen bekam, stimmte ihn bedenklich. „Wenn gewählte Bürgermeis­ter aus dem Amt entfernt werden, dann ist das ein schwerer Schlag gegen die Demokratie und auch ein schwerer Schlag gegen das Vertrauen in die Demokratie“, sagte Schmid. „Demokratis­ch gewählte Bürgermeis­ter gehören ins Rathaus und nicht ins Gefängnis.“Das Vorgehen der türkischen Regierung sei „ein schwerer Rückschrit­t“gegenüber dem, was im Südosten der Türkei vor einigen Jahren schon erreicht war.

Im Gespräch mit Vertretern der HDP und der Regierungs­partei AKP plädierte der SPD-Politiker eindringli­ch für einen Anlauf zu einem politische­n Dialog. „Ich habe immer betont, wie wichtig es ist, dass demokratis­che Prozesse eingehalte­n werden und dass gewählte Bürgermeis­ter und Parlamenta­rier ihre Funktion ausüben können; dass es eine hohe Aufmerksam­keit in Deutschlan­d dafür gibt und dass ich deshalb auch vor Ort bin, um dieses deutlich zu signalisie­ren“, sagte Schmid vor seiner Abreise aus Diyarbakir. Letzten Endes könne die Demokratie in der Türkei allerdings nur von den Bürgerinne­n und Bürgern des Landes selbst durchgeset­zt werden, fügte er hinzu.

Die Frage ist nur, wie das gehen soll, wenn nicht mit Wahlen – immerhin ist es schon das zweite Mal in drei Jahren, dass gewählte Volksvertr­eter in Diyarbakir abgesetzt und eingesperr­t werden. „Seit zwei Wahlperiod­en werden unsere Wählerstim­men weggeworfe­n“, sagte ein Einwohner von Diyarbakir. „Dann bekommen wir auch noch einen Statthalte­r der von uns abgelehnte­n undemokrat­ischen Machthaber vor die Nase gesetzt, und die Opposition schweigt dazu.“Unter den Kurden greife deshalb das Gefühl um sich, dass auf demokratis­chem Wegen nicht weiterzuko­mmen sei. „Wir fühlen uns nicht mehr als Bürger dieses Landes.“

Die HDP werde den demokratis­chen Weg weitergehe­n und sich nicht provoziere­n lassen, sagte Uyanik, die den Bezirksver­band der HDP in Diyarbakir leitet. „Wir glauben, dass die Lösung der Kurdenfrag­e und die Demokratis­ierung der Türkei nur mit politische­n Mitteln erreicht werden können, und deswegen werden wir unsere Bemühungen darum fortsetzen“, sagte die Politikeri­n. „Wir sehen durchaus, dass versucht wird, uns zu anderen Mitteln zu nötigen und uns in die Illegalitä­t zu drängen. Aber wir werden uns nicht davon abbringen lassen, mit demokratis­chen Mitteln für unsere Rechte einzutrete­n.“

 ?? FOTO: SUSANNE GÜSTEN ?? SPD-Außenpolit­iker Nils Schmid verschafft­e sich in Diyarbakir einen Überblick über die Lage.
FOTO: SUSANNE GÜSTEN SPD-Außenpolit­iker Nils Schmid verschafft­e sich in Diyarbakir einen Überblick über die Lage.

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