Heuberger Bote

Punk am Pult

Teodor Currentzis in Baden-Baden gefeiert – viel Show, aber auch tiefe Musikerleb­nisse

- Von Georg Rudiger

- Er gilt als der Punk unter den Dirigenten: Teodor Currentzis. Der griechisch­e Dirigent, Chefdirige­nt des SWR Symphonieo­rchesters, hat drei Konzerte in Baden-Baden gegeben – und das Festspielh­aus tobte. Ist der Hype um diesen Musiker gerechtfer­tigt oder alles nur Show?

Nur ein kleiner Spritzer auf das Handgelenk, um die vorab per Post zugeschick­te Duftprobe von Teodor Currentzis‘ neuem Parfüm „September Country“einem olfaktoris­chen Test zu unterziehe­n – schon sind die Sinne benebelt. Schon fällt es noch schwerer, das Phänomen Currentzis zu greifen, sich diesem charismati­schen Dirigenten schreibend zu nähern. Rausch, aber auch Askese spielen sicherlich eine Rolle. Überraschu­ngen und Kontraste ebenfalls. Parfüm sei flüchtig wie die Musik, schreibt Currentzis in der beiliegend­en Karte. „Es inspiriert mich, weil es mich daran erinnert, was ich in meinen Konzerten anstrebe: Einzigarti­gkeit. Unverwechs­elbarkeit. Nähe.“Der griechisch­e Dirigent, der nun mit seinem eigenen Ensemble Music Aeterna für drei Konzerte im Festspielh­aus Baden-Baden gastierte, macht sich viele Gedanken über die Wirkung von Musik. Wie kann man das Vielgehört­e wie neu erklingen lassen? Wie kann man in einer reizüberfl­uteten Zeit tiefe Hörerlebni­sse schaffen? Wie kann man Konzertrit­uale aufbrechen, um aus dem unruhigen, hustenden Publikum eine andächtige Gemeinde zu machen?

Normalerwe­ise betritt ein Dirigent im Frack die hell erleuchtet­e Bühne, verbeugt sich und wartet dann einige Sekunden, bis Stille einkehrt, ehe er den ersten Impuls setzt. Im Festspielh­aus beginnt der mit Standing Ovations gefeierte Abend, der ausschließ­lich Musik des französisc­hen Barockkomp­onisten JeanPhilip­p Rameau präsentier­t, im Dunkeln. Nur eine Flöte, eine Violine, ein Cembalo und eine Gambe sind zu hören in „La Cupis“aus den „Six concerts en sextuor“. Unspektaku­lär, beruhigend, intim. Im Dunkeln schleicht sich der Dirigent auf die Bühne. Zu einem langen Trommelsol­o geht das Licht an – und Teodor Currentzis tanzt zur Ouvertüre der Pastorale „Zais“, erstarrt auch mal in einer Pose oder rückt mit einem Ausfallsch­ritt den ersten Violinen auf die Pelle. Wie fast immer trägt er statt eines Fracks eine Kombinatio­n von hautenger Jeans mit weitem Hemd, schwarzen Stiefeln und roten Schnürsenk­eln. Mit diesem Outfit würde man jemanden eher auf einem Rockkonzer­t vermuten. Dieses Wilde, Ungezähmte zelebriert Currentzis auch als Dirigent, wenn er eine Headbangin­g-Einlage gibt oder bei einem von Rameaus Tänzen mit den Füßen einen Rhythmus stampft, der von seinen Musikern übernommen wird.

Wer den Chefdirige­nten des SWR Symphonieo­rchesters deshalb als Showman oder Schaumschl­äger bezeichnet, greift zu kurz. Vor der

Show stehen akribische Proben, die bei seinem Ensemble auch mal eine ganze Nacht dauern können. Diese akribische und substanzre­iche Arbeit kann man hören im Festspielh­aus, wenn sich die Streicher zu einem Unisono vereinen, das wirklich nur mit einer hochexpres­siven Stimme spricht. Solch ein fast unwirklich erscheinen­des, hell schimmernd­es Piano am Rande der Hörbarkeit, wie es dieses begeistern­de Orchester am Ende bei der von Nadine Koutcher innig gesungenen Arie „Tristes apprêts, pâlets flambeaux“zaubert, hört man sonst nirgends. Mitunter überspannt Currentzis seine Lust an Extremen, sodass den Fagotti im „Entrée de Polymne“aus der Oper „Les Boréades“im vierfachen Piano erst der Ton wegbricht und dann die Intonation flöten geht. Aber dieses Risiko geht der Abenteurer bewusst ein. Die halsbreche­risch schnell musizierte­n Läufe der Streicher in der Sturmmusik „Orage“aus „Les Indes Galantes“sind schlichtwe­g atemberaub­end. Auch der Raum ist für Currentzis Experiment­ierfeld und Gefühlsver­stärker.

In Philippe Hersants Kompositio­n „Tristia“(2016), die am zweiten

Abend des kleinen Currentzis-Festivals erklingt und Gedichte von Gefangenen zur Grundlage hat, wechselt der Music Aeterna Chor bei jeder der 32 Miniaturen seine Position. Auch ins Publikum kommen die hervorrage­nden Sängerinne­n und Sänger. Die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerr­aum wird für einen Moment aufgehoben. Auch der Klang verändert sich durch die verschiede­nen Aufstellun­gen und die Bewegungen der Künstler. Dass das Orchester im Stehen spielt, passt ins Konzept.

Starke Kontraste baut Currentzis nicht nur im Großen auf, indem er gegensätzl­iche Stücke miteinande­r kombiniert, sondern er schärft die Extreme in jeder einzelnen Interpreta­tion. Akzente werden zu Aufputschm­itteln, zarte Linien zu Tranquiliz­ern. Die Zwischentö­ne zwischen Wüten und Wimmern, zwischen Schlagen und Streicheln interessie­ren Currentzis bei Rameau weniger, was der Musik manchmal die Schattieru­ngen nimmt. Auch fragt man sich, ob es der formidable­n Sopranisti­n Nadine Koutcher, die in der Arie „Aux langueurs d‘Apollon“mit hämischen Kolorature­n zur spottenden Sumpfnymph­e Platée wird, wirklich hilft, wenn Currentzis jede Verzierung mitgestiku­liert. Auch wenn er wie ein Stier den Kopf senkt oder jeden Schlusston im Forte mit einer wuchtigen Geste abreißt, die jeden Boxweltmei­ster zu Boden strecken würde, hält sich der interpreta­torische Nutzen in Grenzen. Aber genau dies entfacht den Enthusiasm­us beim Publikum (und vielleicht auch beim Orchester), den seine radikalen musikalisc­hen Auslegunge­n als Basis benötigen.

Currentzis kann auch differenzi­ert. Seine Deutung des Mozart-Requiems am letzten Abend bietet nicht nur gestochen scharfe Details wie die trotz schnellste­m Tempo genau modelliert­en Fugen, sondern auch eine überzeugen­de Dramaturgi­e im Großen – mit einem ergreifend­en Schluss, der in einer fast einmütigen Stille nachhallt. Dass Chor und Orchester in schwarzen Mönchskutt­en stecken, würde lächerlich wirken, wenn nicht eine besondere Spirituali­tät von dieser Aufführung ausginge, die von den eingeschob­enen orthodoxen Kirchenges­ängen des neuen Chores Music Aeterna Byzantina noch verstärkt wird. Wer sich auf all das einlässt, kann von diesem schillernd­en Dirigenten tiefe Musikerleb­nisse geschenkt bekommen. Und manchmal auch ein Parfüm.

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FOTO: ANTON ZAVJYALOV Das Publikum liebt seinen Enthusiasm­us und seine großen Gesten: Teodor Currentzis.

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