Punk am Pult
Teodor Currentzis in Baden-Baden gefeiert – viel Show, aber auch tiefe Musikerlebnisse
- Er gilt als der Punk unter den Dirigenten: Teodor Currentzis. Der griechische Dirigent, Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters, hat drei Konzerte in Baden-Baden gegeben – und das Festspielhaus tobte. Ist der Hype um diesen Musiker gerechtfertigt oder alles nur Show?
Nur ein kleiner Spritzer auf das Handgelenk, um die vorab per Post zugeschickte Duftprobe von Teodor Currentzis‘ neuem Parfüm „September Country“einem olfaktorischen Test zu unterziehen – schon sind die Sinne benebelt. Schon fällt es noch schwerer, das Phänomen Currentzis zu greifen, sich diesem charismatischen Dirigenten schreibend zu nähern. Rausch, aber auch Askese spielen sicherlich eine Rolle. Überraschungen und Kontraste ebenfalls. Parfüm sei flüchtig wie die Musik, schreibt Currentzis in der beiliegenden Karte. „Es inspiriert mich, weil es mich daran erinnert, was ich in meinen Konzerten anstrebe: Einzigartigkeit. Unverwechselbarkeit. Nähe.“Der griechische Dirigent, der nun mit seinem eigenen Ensemble Music Aeterna für drei Konzerte im Festspielhaus Baden-Baden gastierte, macht sich viele Gedanken über die Wirkung von Musik. Wie kann man das Vielgehörte wie neu erklingen lassen? Wie kann man in einer reizüberfluteten Zeit tiefe Hörerlebnisse schaffen? Wie kann man Konzertrituale aufbrechen, um aus dem unruhigen, hustenden Publikum eine andächtige Gemeinde zu machen?
Normalerweise betritt ein Dirigent im Frack die hell erleuchtete Bühne, verbeugt sich und wartet dann einige Sekunden, bis Stille einkehrt, ehe er den ersten Impuls setzt. Im Festspielhaus beginnt der mit Standing Ovations gefeierte Abend, der ausschließlich Musik des französischen Barockkomponisten JeanPhilipp Rameau präsentiert, im Dunkeln. Nur eine Flöte, eine Violine, ein Cembalo und eine Gambe sind zu hören in „La Cupis“aus den „Six concerts en sextuor“. Unspektakulär, beruhigend, intim. Im Dunkeln schleicht sich der Dirigent auf die Bühne. Zu einem langen Trommelsolo geht das Licht an – und Teodor Currentzis tanzt zur Ouvertüre der Pastorale „Zais“, erstarrt auch mal in einer Pose oder rückt mit einem Ausfallschritt den ersten Violinen auf die Pelle. Wie fast immer trägt er statt eines Fracks eine Kombination von hautenger Jeans mit weitem Hemd, schwarzen Stiefeln und roten Schnürsenkeln. Mit diesem Outfit würde man jemanden eher auf einem Rockkonzert vermuten. Dieses Wilde, Ungezähmte zelebriert Currentzis auch als Dirigent, wenn er eine Headbanging-Einlage gibt oder bei einem von Rameaus Tänzen mit den Füßen einen Rhythmus stampft, der von seinen Musikern übernommen wird.
Wer den Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters deshalb als Showman oder Schaumschläger bezeichnet, greift zu kurz. Vor der
Show stehen akribische Proben, die bei seinem Ensemble auch mal eine ganze Nacht dauern können. Diese akribische und substanzreiche Arbeit kann man hören im Festspielhaus, wenn sich die Streicher zu einem Unisono vereinen, das wirklich nur mit einer hochexpressiven Stimme spricht. Solch ein fast unwirklich erscheinendes, hell schimmerndes Piano am Rande der Hörbarkeit, wie es dieses begeisternde Orchester am Ende bei der von Nadine Koutcher innig gesungenen Arie „Tristes apprêts, pâlets flambeaux“zaubert, hört man sonst nirgends. Mitunter überspannt Currentzis seine Lust an Extremen, sodass den Fagotti im „Entrée de Polymne“aus der Oper „Les Boréades“im vierfachen Piano erst der Ton wegbricht und dann die Intonation flöten geht. Aber dieses Risiko geht der Abenteurer bewusst ein. Die halsbrecherisch schnell musizierten Läufe der Streicher in der Sturmmusik „Orage“aus „Les Indes Galantes“sind schlichtweg atemberaubend. Auch der Raum ist für Currentzis Experimentierfeld und Gefühlsverstärker.
In Philippe Hersants Komposition „Tristia“(2016), die am zweiten
Abend des kleinen Currentzis-Festivals erklingt und Gedichte von Gefangenen zur Grundlage hat, wechselt der Music Aeterna Chor bei jeder der 32 Miniaturen seine Position. Auch ins Publikum kommen die hervorragenden Sängerinnen und Sänger. Die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum wird für einen Moment aufgehoben. Auch der Klang verändert sich durch die verschiedenen Aufstellungen und die Bewegungen der Künstler. Dass das Orchester im Stehen spielt, passt ins Konzept.
Starke Kontraste baut Currentzis nicht nur im Großen auf, indem er gegensätzliche Stücke miteinander kombiniert, sondern er schärft die Extreme in jeder einzelnen Interpretation. Akzente werden zu Aufputschmitteln, zarte Linien zu Tranquilizern. Die Zwischentöne zwischen Wüten und Wimmern, zwischen Schlagen und Streicheln interessieren Currentzis bei Rameau weniger, was der Musik manchmal die Schattierungen nimmt. Auch fragt man sich, ob es der formidablen Sopranistin Nadine Koutcher, die in der Arie „Aux langueurs d‘Apollon“mit hämischen Koloraturen zur spottenden Sumpfnymphe Platée wird, wirklich hilft, wenn Currentzis jede Verzierung mitgestikuliert. Auch wenn er wie ein Stier den Kopf senkt oder jeden Schlusston im Forte mit einer wuchtigen Geste abreißt, die jeden Boxweltmeister zu Boden strecken würde, hält sich der interpretatorische Nutzen in Grenzen. Aber genau dies entfacht den Enthusiasmus beim Publikum (und vielleicht auch beim Orchester), den seine radikalen musikalischen Auslegungen als Basis benötigen.
Currentzis kann auch differenziert. Seine Deutung des Mozart-Requiems am letzten Abend bietet nicht nur gestochen scharfe Details wie die trotz schnellstem Tempo genau modellierten Fugen, sondern auch eine überzeugende Dramaturgie im Großen – mit einem ergreifenden Schluss, der in einer fast einmütigen Stille nachhallt. Dass Chor und Orchester in schwarzen Mönchskutten stecken, würde lächerlich wirken, wenn nicht eine besondere Spiritualität von dieser Aufführung ausginge, die von den eingeschobenen orthodoxen Kirchengesängen des neuen Chores Music Aeterna Byzantina noch verstärkt wird. Wer sich auf all das einlässt, kann von diesem schillernden Dirigenten tiefe Musikerlebnisse geschenkt bekommen. Und manchmal auch ein Parfüm.