Eigenlob und viel Kritik zur Halbzeit
Große Koalition stellt sich ein positives Zwischenzeugnis aus – Opposition empört
- Die Große Koalition hat ihre Halbzeitbilanz erstellt, diese aber nicht öffentlich präsentiert. Am Rande der Vorstellung des Jahresgutachtens der Wirtschaftsweisen sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, von 300 geplanten großen Maßnahmen seien zwei Drittel vollendet oder auf den Weg gebracht worden. „Das zeigt, dass wir arbeitsfähig und arbeitswillig sind“, erklärte die CDU-Politikerin am Mittwoch in Berlin. 83 Seiten hat die Bilanz – und darin heißt es, man habe „viel erreicht und umgesetzt“.
Auch Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hob die Fortschritte hervor. Er meinte jedoch auch, dass noch einiges zu tun bleibe, zum Beispiel der Abbau von sachgrundlosen Befristungen in Arbeitsverträgen. Weitergeredet wird in der Koalition zudem über die strittige Grundrente. Hier soll am nächsten Sonntag in einem Koalitionsausschuss eine Entscheidung fallen.
Die SPD hatte von einem Erfolg bei der Grundrente die Zukunft der Koalition abhängig gemacht. Die Union hatte betont, sie wolle sich nicht erpressen lassen. Am Mittwoch gingen weder Scholz noch Merkel auf diesen Konflikt ein. In der Halbzeitbilanz steht die Grundrente unter „Was wir noch vorhaben“. Zum Streit, ob die Bedürftigkeit der Bezieher geprüft werden soll, heißt es nun:
„Die Grundrente soll zielgenau sein und denen zugutekommen, die sie brauchen.“Merkel und Scholz beteuerten unisono, man wolle gemeinsam weiterregieren.
Von der Opposition kam Kritik. Linkenchef Bernd Riexinger erklärte, es gebe zwar einige Verbesserungen wie den gesetzlichen Mindestlohn. Aber die Koalition sei „weit davon entfernt, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen“. FDP-Chef Christian Lindner hielt dem Bündnis vor, es werde nicht durch gemeinsame Projekte zusammengehalten, sondern sei „aus Machtinteressen“verbunden. Fraktionsvize Michael Theurer, Chef der Südwest-FDP, sagte der „Schwäbischen Zeitung“: „Die GroKo streitet am laufenden Band, die CDU verbiegt sich bis zur Unkenntlichkeit.“Er plädierte für Neuwahlen.
Auch seitens der Wirtschaft überwog die Kritik. Dieter Kempf, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, sagte: „Die Zwischenbilanz der Industrie für die Arbeit der Bundesregierung fällt nicht so erfreulich aus, wie es sich die Koalitionäre selbst bescheinigen. Die Wirtschaft stagniert, und die Bundesregierung bleibt beim Reformtempo hinter den Erwartungen zurück.“Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hingegen erklärte: „Der Ruf ist in der Tat schlechter als das, was die Große Koalition gemacht hat.“
– 83 Seiten Halbzeitbilanz hat die Bundesregierung verfasst. Aber keiner will sie vorstellen. Kein öffentlicher Auftritt, lediglich am Rande der Übergabe des Gutachtens der Wirtschaftsweisen haben Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) drei Sätze gesagt. Merkel, dass die Regierung „arbeitsfähig und arbeitswillig“sei, Scholz, dass es große Fortschritte bei der sozialen Sicherung, der Familienpolitik sowie beim Thema Wohnungen und Mieten gebe.
Doch allzu hoch will man die Halbzeitbilanz nicht hängen. Die Regierung ist mit sich zufrieden, doch die SPD besteht darauf, dass sie ihren Parteitag entscheiden lassen will – und der ist erst vom 6. bis 8. Dezember. Da will man nicht vorher groß auftrumpfen, zumal im Hintergrund noch die Gespräche über die Grundrente weiterlaufen. Die hat die SPD mehr oder minder zum Prüfstein über ihre Entscheidung gemacht.
Grundrente noch offen
Und bei diesem Thema kann man in der Bilanz noch keinen Vollzug melden. Bisher steht hier nur: „Die Grundrente soll zielgenau sein und denen zugutekommen, die sie brauchen. Empfänger der Grundsicherung im Alter sollen im selbstgenutzten Wohneigentum wohnen bleiben dürfen.“Nachdem die Verhandlungen zur Grundrente noch einmal verschoben wurden, weil zum Beispiel Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus noch weitere Zeit für Verhandlungen forderte, ist nach wie vor nicht ganz klar, ob es zu einer Einigung kommt.
Die meisten Politiker in Berlin gehen aber davon aus, dass der Koalitionsausschuss hier am nächsten Sonntag zu Potte kommt, zumal Kanzlerin Merkel in der Unionsfraktion am Dienstag erklärt hat, dass man das muss. Und dass es eine gute Grundlage gebe. Insgesamt ist es der Koalition wichtig, an diesem Tag lieber nach vorne statt zurückzuschauen.
Die Halbzeitbilanz tut beides. Das komplette Kabinett hatte Hausaufgaben zu machen, denn jedes Ressort hat genau aufgeschrieben, was es geleistet hat und was noch zu tun bleibt.
Zu jedem einzelnen Punkt vom „Aufbruch zu Europa“bis zu „Zusammenhalt und Erneuerung – Demokratie beleben“wird jeweils in a. und b. aufgelistet: a. Was wir bereits auf den Weg gebracht haben. b. Was wir noch vorhaben. Die Vorhaben sind besonders im Bereich des Klimaschutzes ausgeprägt.
Was allerdings alles so in den letzten anderthalb Jahre in der Großen Koalition passierte, steht nicht in der Bilanz. Nichts über die vielen Krisensitzungen,
nichts über die langen Diskussionen über den Klimaschutz, nichts darüber, dass Horst Seehofers Forderung nach der Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern die Koalition vor eineinhalb Jahren fast sprengte. Nichts von SPD-Partei
und Fraktionschefin Andrea Nahles, die entnervt zurückgetreten ist. Und nichts von Angela Merkel, die den Parteivorsitz niederlegte.
Die SPD hatte die „Evaluation“vor eineinhalb Jahren in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Die
Parteiführung will, wenn Anfang nächster Woche über die Grundrente entschieden ist, mit ihrer Analyse der Halbzeitbilanz anfangen, sodass der Parteitag am 6. bis 8. Dezember in Berlin vermutlich eine klare Empfehlung zur Groko bekommt. Die kommissarische SPD-Parteichefin Malu Dreyer meint: „Insofern denke ich, dass man sehr gelassen auch den weiteren Wochen entgegensehen kann.“In der Union aber hat man bereits Angst, dass wenn die SPD sich bei der Grundrente durchsetzt, die Partei sofort wieder mit neuen Projekten um die Ecke kommen wird. Das gegenseitige Vertrauen ist nicht mehr ausgeprägt, was sich auch auf den Ruf der Groko ausgewirkt hat. Er sei schlechter als die Bilanz, sagt zum Beispiel die Bertelsmann-Stiftung, die alle Projekte untersuchte.
Viele Spekulationen
Dass die Opposition nicht zufrieden ist, versteht sich von selbst. Von „führungslosen Parteien“, die nicht in der Lage sind, die großen Probleme anzupacken, spricht GrünenFraktionschef Anton Hofreiter. Und FDP-Fraktionsvorsitzender Christian Linder meint, Deutschland werde unter Wert regiert. „Im Grund wird hier in Berlin nur noch spekuliert, wie lange die Große Koalition regiert“. Das zeige: „Die Union und die SPD, die haben eigentlich fertig.“
Die Linke Gesine Lötzsch sieht vieles nur als Ankündigungspolitik. Kritik übte auch der Sozialverband Deutschland (SoVD). „Die Selbstbeweihräucherung passt mit der wachsenden Wut in der Bevölkerung, dem Gefühl von immer mehr Menschen, abgehängt und ungerecht behandelt zu werden, überhaupt nicht zusammen”, sagt SoVD-Präsident Adolf Bauer der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.