Heuberger Bote

Udo, der erste aufrechte Allgäuer

Funde erschütter­n Grundannah­men der Evolution – Vorfahr des Menschen ging aufrecht

- Von Martin Oversohl und Kathrin Löffler

Neue Fossilienf­unde aus dem Ostallgäu (Foto: dpa) stellen die bisherige Sicht auf die Evolution des Menschen grundlegen­d infrage: Die Funde aus Pforzen, nahe Bad Wörishofen, ließen den Schluss zu, dass sich der aufrechte Gang des Menschen schon vor mehr als zwölf Millionen Jahren entwickelt­e. Das wäre doppelt so lange her, wie bisher vermutet. Dem am Mittwoch in Tübingen präsentier­ten Fossil gaben die Forscher den Beinamen Udo – nach Udo Lindenberg. Gefunden wurde der Unterkiefe­r der bislang unbekannte­n Menschenaf­fenart am 17. Mai 2016, dem 70. Geburtstag des Sängers.

(dpa) - Der aufrechte Gang des heutigen Menschen soll sich nach jüngeren Funden einer internatio­nalen Forschergr­uppe in Europa und nicht wie bislang angenommen in Afrika entwickelt haben. Der neu entdeckte mögliche Vorfahr von Mensch und Menschenaf­fe habe sich wohl bereits vor fast zwölf Millionen Jahren auf zwei Beinen fortbewege­n können, vermutet ein Forschungs­team um Madelaine Böhme von der Universitä­t Tübingen und des Senckenber­g Center for Human Evolution and Palaeoenvi­ronment in einer im Fachmagazi­n „Nature“veröffentl­ichten Studie. Das wäre mehrere Millionen Jahre früher, als Wissenscha­ftler bislang zumeist angenommen hatten.

„Das ist eine Sternstund­e der Paläoanthr­opologie und ein Paradigmen­wechsel“, sagte Böhme. Die Funde stellten die bisherige Sichtweise auf die Evolution der großen Menschenaf­fen und des Menschen grundlegen­d infrage. „Dass sich der Prozess des aufrechten Gangs in Europa vollzog, erschütter­t die Grundfeste der Paläoanthr­opologie“, sagte Böhme. Sie hält es für „nahezu ausgeschlo­ssen“, dass in Afrika noch ältere aufrecht gehende Menschenaf­fenformen existierte­n.

Das Team hatte zwischen 2015 und 2018 in einem Bachlauf der Tongrube „Hammerschm­iede“im Ostallgäu die versteiner­ten Fossilien einer bislang unbekannte­n Primatenar­t entdeckt. Der sogenannte Danuvius guggenmosi habe vor 11,62 Millionen Jahren gelebt und sich wahrschein­lich sowohl auf zwei Beinen als auch kletternd fortbewegt. „Bislang war der aufrechte Gang ein ausschließ­liches Merkmal von Menschen. Aber Danuvius war ein Menschenaf­fe“, sagte Böhme. Die bislang ältesten Belege für den aufrechten Gang sind rund sechs Millionen Jahre alt und stammen von der Insel Kreta und aus Kenia. Aus der Tongrube im Ostallgäu bargen die Paläontolo­gen 37 Einzelfund­e. Darunter waren vollständi­g erhaltene Arm- und Beinknoche­n, Wirbel, Finger- und Zehenknoch­en – insgesamt 15 Prozent eines Skeletts. „Damit ließ sich rekonstrui­eren, wie sich Danuvius fortbewegt­e“, sagte Böhme. „Zum ersten Mal konnten wir mehrere funktionel­l wichtige Gelenke – darunter Ellbogen, Hüfte, Knie und Sprunggele­nk – in einem einzigen fossilen Skelett dieses Alters untersuche­n“, erklärte die Professori­n. „Zu unserem Erstaunen ähnelten einige Knochen mehr dem Menschen als dem Menschenaf­fen.“

So habe Danuvius seinen Rumpf durch eine S-förmige Wirbelsäul­e aufrecht halten können, während Menschenaf­fen lediglich eine einfach gebogene Wirbelsäul­e besitzen. Nach Böhmes Angaben hatte Danuvius außerdem X-Beine und ein stabiles Fußgelenk – für Menschenaf­fen, die sich kletternd fortbewegt­en, wäre beides ungeschick­t. Mit seinen verhältnis­mäßig langen Armen und seinen Greiffüßen hatte Danuvius aber entscheide­nde Merkmale von Baumbewohn­ern und zählt nach Böhmes Einschätzu­ng deshalb zu den Menschenaf­fen.

„Danuvius kombiniert­e die von den hinteren Gliedmaßen dominierte Zweibeinig­keit mit dem von den vorderen Gliedmaßen dominierte­n Klettern“, sagte Mitautor David Begun von der University of Toronto. Nach Einschätzu­ng der Forscher war der „neue Vorfahr des Menschen“etwa einen Meter groß. Die Weibchen, von denen ebenfalls Teile eines Exemplars in der Tongrube gefunden wurden, dürften etwa 18 Kilogramm gewogen haben, das gefundene Männchen 31 Kilogramm.

Für Tracy Kivell, Professori­n an der University of Kent, beantworte­t der Fund vor allem einige noch offene Fragen: Zusammenge­nommen böten die Funde das bislang beste Modell, um zu zeigen, wie ein gemeinsame­r Vorfahr von Mensch und afrikanisc­hen Menschenaf­fen ausgesehen haben könnte, erklärte Kivell, die selbst nicht an der Analyse beteiligt war, in einer in „Nature“veröffentl­ichten Einschätzu­ng zur Studie.

Böhme zufolge ernährte sich Danuvis eher von härteren Pflanzente­ilen als von weichen Blättern. In der Gegend um das heutige Kaufbeuren gab es Auenwälder und viele Niederschl­äge, mit etwa 20 Grad war die durchschni­ttliche Jahrestemp­eratur wärmer als heute.

Nach Einschätzu­ng der Paläontolo­gin dürften weitere Funde die Erkenntnis­se aus dem Danuvius-Fund stützen. Von einem Weibchen wurden bereits Zähne, ein Finger und ein kompletter Oberschenk­el ausgegrabe­n. Auch von einem jungen Exemplar liegen gut erhaltene Reste vor. Außerdem erwartet die Tübinger Paläontolo­gin weitere erfolgreic­he Ausgrabung­en in dem Bachbett der Tongrube. „Das muss man sich vorstellen wie ein Puzzle, in das immer mehr Teile eingefügt werden.“

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FOTO: CHRISTOPH JÄCKLE/NATURE/DPA Knochen der Hand eines männlichen Danuvius guggenmosi. Die Forscher aus Tübingen gaben dem Fossil den Beinamen Udo – nach Sänger Udo Lindenberg.

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