Heuberger Bote

Chile ist aufgewacht

Die Menschen wollen in Bürgerräte­n über ihr eigenes Schicksal bestimmen

- Von Klaus Ehring feld

- Zwischendu­rch gibt es immer mal wieder diese ein, zwei Tage, an denen sie Luft holen. An denen die Zornigen sich sammeln – um gleich darauf wieder mit geballter Macht auf Straßen und Plätzen zu erscheinen. Dann liefern sich die meist jugendlich­en Demonstran­ten wieder Straßensch­lachten mit den Sicherheit­skräften. Und alles fängt von vorne an.

Der Dienstag war so ein Tag zum Kräftesamm­eln. Da waren es nur ein paar Hundert Fahrradfah­rer, die sich auf der Plaza Italia in der Hauptstadt Santiago de Chile versammelt­en, um dieses Mal ihrem Protest radelnd Ausdruck zu verleihen. Tags zuvor waren es wieder Tausende gewesen, die lautstark gegen soziale Missstände und für höhere Löhne und Renten demonstrie­rten. Ebbt der Zorn nach drei Wochen Dauerprote­st schon ab?

Eher werden neue Formen des Protestes ersonnen. Am Mittwoch blockierte­n Lkw- und Pkw-Fahrer am Morgen die Stadtautob­ahnen der Metropole, um gegen die hohen Autobahnge­bühren zu protestier­en.

An den ruhigeren Tagen wird aber umso heftiger gestritten. Denn die Chilenen machen ihrem Ärger auf Staat und System nicht nur lautstark und zum Teil gewaltsam Luft. Sie suchen auch nach Ideen für ein neues, gerechtere­s Modell für das schwankend­e Land, das einmal als gesellscha­ftliches und ökonomisch­es Vorbild für ganz Lateinamer­ika galt.

Bürgerräte sollen her, in denen die Chilenen über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Weil das Vertrauen in die Regierung und die Politik dahin ist. „Wir müssen den Druck auf die Regierung aufrechter­halten“, sagt etwa die junge Pädagogin und Studentin der Theaterwis­senschafte­n, Emilia González. „Wir dürfen nicht nachlassen.“Die 27-Jährige hat den Hörsaal gegen die Straße getauscht. „Wir brauchen radikale Veränderun­gen und wollen keine Reförmchen, keine kosmetisch­en Veränderun­gen, wie sie uns der Präsident anbietet.“

González drückt damit das aus, was Chilenen allen Alters und aller politische­n Couleur und Berufsgrup­pen finden. „Basta ya“– es reicht. So oder in anderen Worten steht es tausendfac­h auf den Hauswänden rund um die Plaza Italia gesprüht.

Entzündet hat sich die Rebellion am 18. Oktober an einer minimalen Erhöhung der U-Bahn-Preise. Aber es war die dritte Preisanpas­sung in diesem Jahr und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen im Schnitt 500 Euro verdient und wo nicht nur der öffentlich­e Nahverkehr so viel kostet wie in Paris. Und so wurde aus dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ein Tsunami, von dem noch nicht klar ist, ob er den konservati­ven Präsidente­n Sebastián Piñera aus dem Amt spült.

Mehr als 20 Tote, über tausend Verletzte, Millionens­chäden, zerstörte Infrastruk­tur und geplündert­e Geschäfte sind ebenso zu beklagen wie das zerstörte Bild vom Musterland Lateinamer­ikas, das Piñera noch vor Kurzem als „Oase“in der Region bezeichnet hat. Aber nun gleicht der schmale und lange Andenstaat mitunter einem Bürgerkrie­gsland und der Präsident wirkt überforder­t. Erst hat er seine Landsleute als Vandalen beschimpft, wähnte sich im Krieg gegen sein Volk, dann folgte ein öffentlich­es Mea culpa, eine Kabinettsu­mbildung und schließlic­h zerknirsch­t die Absage des Asien-Pazifik-Wirtschaft­sforums Mitte November und des Weltklimag­ipfels Anfang Dezember.

Auch nach dem langen Allerheili­gen-Wochenende halten die Menschen im ganzen Land die Proteste aufrecht, fordern Strukturre­formen, wollen eine verfassung­gebende Versammlun­g und kritisiere­n den harten Einsatz der Sicherheit­skräfte. Lauthals singen sie: „Chile despertó“– Chile ist endlich erwacht.

Fernab vom Zoff im Zentrum Santiagos hat Cristián Talamilla seine Nachbarn zusammenge­trommelt. Talamilla, kariertes Hemd und Schiebermü­tze, ist Aktivist in Valle Grande, einem Mittelklas­sevorort am nördlichen Stadtrand der Hauptstadt. Kleine Einfamilie­nhäuser, eine Feuerwehrs­tation und staubige Straßen prägen das Bild. Der 46-jährige Vorsitzend­e einer Nachbarsch­aftsinitia­tive hat die Anwohner im kleinen Park des Vororts zu einem „Cabildo abierto“zusammenge­rufen, einem „offenen Bürgerrat“. Die Cabildos sind spontane Treffen auf Stadtteile­bene, in Betrieben, Unis, in Hausgemein­schaften und Gremien und sie finden derzeit überall in Chile statt. In diesen verwirrend­en Tagen suchen die Menschen nach Orientieru­ng und Ideen, wollen mitreden und helfen, ein neues Gesellscha­ftsmodell zu entwerfen.

Die Chilenen haben die Nase voll von niedrigen Löhnen, hohen Lebenshalt­ungskosten, einem gewinnorie­ntierten Bildungs- und Gesundheit­ssystem sowie privatisie­rten Pensionska­ssen. Ein Modell, das aus den Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 – 1990) stammt und das in der Verfassung von 1980 verankert wurde.

Studentin und Aktivistin Emilia González

In Valle Grande sind an diesem Nachmittag Lehrerinne­n, Kleinunter­nehmer, ein junger Ingenieur, Mütter und Hausfrauen dem Ruf zum „Cabildo abierto“gefolgt. Insgesamt 21 Menschen diskutiere­n zwei Stunden angeregt. Die einen wollen bezahlbare Gesundheit, andere eine Reduzierun­g des Arbeitstag­es auf acht Stunden. Für die Mütter müssen die staatliche­n Schulen besser werden. Ein Rentner beklagt, dass die Abgeordnet­en Diäten von über 20 000 Euro im Monat beziehen.

Kanalisier­t werden die Ergebnisse dieser Bürgerräte später über Dachorgani­sationen wie die „Unidad Social“, in der Gewerkscha­ftsverbänd­e, Lehrervere­inigungen, Studentenr­äte und Frauenorga­nisationen zusammenge­schlossen sind. Die „Unidad Social“hat die Fragebögen ausgearbei­tet, die den Bürgerräte­n vorliegen: „Wie kann es mehr soziale Gerechtigk­eit geben?“, „Was sind die wichtigste­n Forderunge­n?“, „Was können Bürger und die Zivilgesel­lschaft tun, um die Ziele zu erreichen?“, lauten die Fragen.

„Die meisten Chilenen wollen ein Plebiszit und eine verfassung­gebende Versammlun­g erreichen“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. „Sie lehnen die aktuelle Verfassung ab, weil sie ihnen kein Grundrecht auf Bildung, Gesundheit oder Wohnen zusichert.“

„Wir dürfen nicht nachlassen.“

 ?? FOTO: K. EHRINGFELD ?? Cristián Talamilla (re.) hat in Valle Grande die Anwohner zu einem Bürgerrat versammelt.
FOTO: K. EHRINGFELD Cristián Talamilla (re.) hat in Valle Grande die Anwohner zu einem Bürgerrat versammelt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany