Chile ist aufgewacht
Die Menschen wollen in Bürgerräten über ihr eigenes Schicksal bestimmen
- Zwischendurch gibt es immer mal wieder diese ein, zwei Tage, an denen sie Luft holen. An denen die Zornigen sich sammeln – um gleich darauf wieder mit geballter Macht auf Straßen und Plätzen zu erscheinen. Dann liefern sich die meist jugendlichen Demonstranten wieder Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Und alles fängt von vorne an.
Der Dienstag war so ein Tag zum Kräftesammeln. Da waren es nur ein paar Hundert Fahrradfahrer, die sich auf der Plaza Italia in der Hauptstadt Santiago de Chile versammelten, um dieses Mal ihrem Protest radelnd Ausdruck zu verleihen. Tags zuvor waren es wieder Tausende gewesen, die lautstark gegen soziale Missstände und für höhere Löhne und Renten demonstrierten. Ebbt der Zorn nach drei Wochen Dauerprotest schon ab?
Eher werden neue Formen des Protestes ersonnen. Am Mittwoch blockierten Lkw- und Pkw-Fahrer am Morgen die Stadtautobahnen der Metropole, um gegen die hohen Autobahngebühren zu protestieren.
An den ruhigeren Tagen wird aber umso heftiger gestritten. Denn die Chilenen machen ihrem Ärger auf Staat und System nicht nur lautstark und zum Teil gewaltsam Luft. Sie suchen auch nach Ideen für ein neues, gerechteres Modell für das schwankende Land, das einmal als gesellschaftliches und ökonomisches Vorbild für ganz Lateinamerika galt.
Bürgerräte sollen her, in denen die Chilenen über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Weil das Vertrauen in die Regierung und die Politik dahin ist. „Wir müssen den Druck auf die Regierung aufrechterhalten“, sagt etwa die junge Pädagogin und Studentin der Theaterwissenschaften, Emilia González. „Wir dürfen nicht nachlassen.“Die 27-Jährige hat den Hörsaal gegen die Straße getauscht. „Wir brauchen radikale Veränderungen und wollen keine Reförmchen, keine kosmetischen Veränderungen, wie sie uns der Präsident anbietet.“
González drückt damit das aus, was Chilenen allen Alters und aller politischen Couleur und Berufsgruppen finden. „Basta ya“– es reicht. So oder in anderen Worten steht es tausendfach auf den Hauswänden rund um die Plaza Italia gesprüht.
Entzündet hat sich die Rebellion am 18. Oktober an einer minimalen Erhöhung der U-Bahn-Preise. Aber es war die dritte Preisanpassung in diesem Jahr und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen im Schnitt 500 Euro verdient und wo nicht nur der öffentliche Nahverkehr so viel kostet wie in Paris. Und so wurde aus dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ein Tsunami, von dem noch nicht klar ist, ob er den konservativen Präsidenten Sebastián Piñera aus dem Amt spült.
Mehr als 20 Tote, über tausend Verletzte, Millionenschäden, zerstörte Infrastruktur und geplünderte Geschäfte sind ebenso zu beklagen wie das zerstörte Bild vom Musterland Lateinamerikas, das Piñera noch vor Kurzem als „Oase“in der Region bezeichnet hat. Aber nun gleicht der schmale und lange Andenstaat mitunter einem Bürgerkriegsland und der Präsident wirkt überfordert. Erst hat er seine Landsleute als Vandalen beschimpft, wähnte sich im Krieg gegen sein Volk, dann folgte ein öffentliches Mea culpa, eine Kabinettsumbildung und schließlich zerknirscht die Absage des Asien-Pazifik-Wirtschaftsforums Mitte November und des Weltklimagipfels Anfang Dezember.
Auch nach dem langen Allerheiligen-Wochenende halten die Menschen im ganzen Land die Proteste aufrecht, fordern Strukturreformen, wollen eine verfassunggebende Versammlung und kritisieren den harten Einsatz der Sicherheitskräfte. Lauthals singen sie: „Chile despertó“– Chile ist endlich erwacht.
Fernab vom Zoff im Zentrum Santiagos hat Cristián Talamilla seine Nachbarn zusammengetrommelt. Talamilla, kariertes Hemd und Schiebermütze, ist Aktivist in Valle Grande, einem Mittelklassevorort am nördlichen Stadtrand der Hauptstadt. Kleine Einfamilienhäuser, eine Feuerwehrstation und staubige Straßen prägen das Bild. Der 46-jährige Vorsitzende einer Nachbarschaftsinitiative hat die Anwohner im kleinen Park des Vororts zu einem „Cabildo abierto“zusammengerufen, einem „offenen Bürgerrat“. Die Cabildos sind spontane Treffen auf Stadtteilebene, in Betrieben, Unis, in Hausgemeinschaften und Gremien und sie finden derzeit überall in Chile statt. In diesen verwirrenden Tagen suchen die Menschen nach Orientierung und Ideen, wollen mitreden und helfen, ein neues Gesellschaftsmodell zu entwerfen.
Die Chilenen haben die Nase voll von niedrigen Löhnen, hohen Lebenshaltungskosten, einem gewinnorientierten Bildungs- und Gesundheitssystem sowie privatisierten Pensionskassen. Ein Modell, das aus den Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 – 1990) stammt und das in der Verfassung von 1980 verankert wurde.
Studentin und Aktivistin Emilia González
In Valle Grande sind an diesem Nachmittag Lehrerinnen, Kleinunternehmer, ein junger Ingenieur, Mütter und Hausfrauen dem Ruf zum „Cabildo abierto“gefolgt. Insgesamt 21 Menschen diskutieren zwei Stunden angeregt. Die einen wollen bezahlbare Gesundheit, andere eine Reduzierung des Arbeitstages auf acht Stunden. Für die Mütter müssen die staatlichen Schulen besser werden. Ein Rentner beklagt, dass die Abgeordneten Diäten von über 20 000 Euro im Monat beziehen.
Kanalisiert werden die Ergebnisse dieser Bürgerräte später über Dachorganisationen wie die „Unidad Social“, in der Gewerkschaftsverbände, Lehrervereinigungen, Studentenräte und Frauenorganisationen zusammengeschlossen sind. Die „Unidad Social“hat die Fragebögen ausgearbeitet, die den Bürgerräten vorliegen: „Wie kann es mehr soziale Gerechtigkeit geben?“, „Was sind die wichtigsten Forderungen?“, „Was können Bürger und die Zivilgesellschaft tun, um die Ziele zu erreichen?“, lauten die Fragen.
„Die meisten Chilenen wollen ein Plebiszit und eine verfassunggebende Versammlung erreichen“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. „Sie lehnen die aktuelle Verfassung ab, weil sie ihnen kein Grundrecht auf Bildung, Gesundheit oder Wohnen zusichert.“
„Wir dürfen nicht nachlassen.“