Heuberger Bote

Papst Benedikt

eine tragische Figur im Missbrauch­sskandal?

- Von Ludger Möllers Der Film „Verteidige­r des Glaubens“läuft in den nächsten Tagen im „Mephisto“-Kino in Ulm und am 5. und 6. Januar um jeweils 16.30 Uhr im Kulturzent­rum „Linse“in Weingarten.

Die katholisch­e Kirche in Zeiten der Vertrauens­krise – Im umstritten­en Dokumentar­film „Verteidige­r des Glaubens“steht Joseph Ratzinger im Mittelpunk­t

- Der weltweite Missbrauch­sskandal hat die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d in ein Dilemma gestürzt: „Positiv ist zu vermerken, dass es kaum eine Organisati­on gibt, die so viel und auch gut gearbeitet hat, um sich der Herausford­erung zu stellen und Prävention­skonzepte zu entwickeln“, sagt der Ulmer Kinder- und Jugendpsyc­hiater Jörg Michael Fegert, „gleichzeit­ig hat die katholisch­e Kirche mit einem massiven Vertrauens­verlust zu kämpfen. Insofern ist es bemerkensw­ert, dass Bischof Fürst in seiner Neujahrsan­sprache 2019 eine neutrale Auditierun­g auch kirchliche­r Einrichtun­gen gefordert hat.“Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Universitä­t Ulm hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n intensiv mit dem Thema Missbrauch beschäftig­t, auch eigene Studien zum Dunkelfeld vorgelegt: Mehr als 100 000 Opfer sexuellen Missbrauch­s in katholisch­en Einrichtun­gen soll es deutschlan­dweit geben; genauso viele auf evangelisc­her Seite. Doch das ist nicht spezifisch für die Kirchen, so ist sich Fegert sicher: „In allen Institutio­nen zusammenge­nommen, also Schulen, Sportverei­nen, der Jugendarbe­it und in Krankenhäu­sern, sind zwei bis drei Prozent der Kinder und Jugendlich­en Übergriffe­n ausgesetzt.“

Doch im Fokus der Öffentlich­keit steht nach wie vor die katholisch­e Kirche: Seit der Jesuit Klaus Mertes im Jahr 2010 die ersten Fälle in Deutschlan­d publik machte, verschärft sich die Krise zusehends. Die Zahlen sind eindeutig: Die deutschen Bischöfe hatten im September 2018 eine Studie zu sexuellem Missbrauch vorgestell­t. Demnach sollen zwischen den Jahren 1946 und 2014 mindestens 1670 katholisch­e Kleriker 3677 Minderjähr­ige missbrauch­t haben. Weltweit wird das Thema seit den 1990er-Jahren diskutiert, vor allem in Amerika und Irland. Ein Ende der Diskussion­en ist ebenso wenig in Sicht wie ein Ende des Skandals: Experten fürchten, dass vor allem in Afrika und Asien weitere Missbrauch­sfälle aufgedeckt werden.

Auf dem Höhepunkt der Debatte, in der die katholisch­e Kirche weltweit um ihre Glaubwürdi­gkeit ringt, hat jetzt der deutsch-britische Regisseur Christoph Röhl seinen Dokumentar­film „Verteidige­r des Glaubens“vorgestell­t, der sich kritisch mit der Rolle des emeritiert­en Papstes Benedikt XVI. (20052013) auseinande­rsetzt: Röhl zeichnet nach, wie aus seiner Sicht aus dem bayerische­n Priester, späteren Professor, Erzbischof und Kardinal Joseph Ratzinger eine tragische Figur Shakespear­e’schen Ausmaßes wird: „Ein Macbeth, der sehenden Auges als Verteidige­r der Wahrheit Schuld auf sich lädt“, wie Röhl der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt. Weil Ratzinger – so sieht es der Regisseur – die Bewahrung der Institutio­n Kirche vor die Aufklärung des Skandals und vor allem vor die Sorge um die Opfer des Missbrauch­sskandals stellt.

Denn nach Meinung von Experten wie Jörg Fegert ist es eben nicht so, dass die Kirche nur in dem Maß betroffen ist wie andere Teile der Gesellscha­ft auch. Vielmehr gebe es strukturel­le Ursachen, die den Missbrauch begünstigt­en. Röhl deckt diese Strukturen innerhalb der katholisch­en Kirche auf, die zu dem massiven Vertrauens­verlust durch den Missbrauch­sskandal geführt hätten. Beispielsw­eise weist er nach, dass die römische Glaubensko­ngregation gleichzeit­ig als Behörde der Anklage, der Rechtsprec­hung und der Berufung dient – ohne eine andere Instanz, die Fehler korrigiere­n könnte. „Joseph Ratzinger war ein Teil dieses fehlerhaft­en Systems“, betont der 52-Jährige und fügt hinzu: „Er hat die Opfer als Bedrohung gesehen, weil sie die Mission der Kirche infrage stellten. In dem Film gibt es den Satz, dass er eher bereit war, dass neun Opfer nicht zu ihrem Recht gekommen sind, als dass Millionen von Katholiken an ihrem Glauben zweifeln. Dieser Satz sagt alles aus.“

Fünf Jahre lang hat Röhl, er ist nach eigenen Angaben kirchenfer­n und atheistisc­h aufgewachs­en, sich mit Ratzinger beschäftig­t. Er hat in seinem Umfeld recherchie­rt und glaubt, dass der heute 92-Jährige eine Schlüsself­igur im Missbrauch­sskandal ist – und falsch reagiert hat: „Ratzinger hat, im Gegensatz zu anderen, die sexuellen Missbrauch völlig dementiert und als große Lüge der säkularen Welt dargestell­t haben, zumindest geglaubt, dass er stattfand. Er hat die Gefahr für die Kirche erkannt. Die Frage ist, was er mit diesem Wissen getan hat. Er hat das innerhalb der Kirche geheim gehalten, nichts nach außen dringen lassen. Alles intern regeln, alles vertuschen – das hat er getan.“

Röhl, der sich als Dokumentar­filmer einen Namen gemacht und bereits über den Missbrauch­sskandal an der hessischen Odenwaldsc­hule einen durchaus umstritten­en Film gedreht hat, kommt ohne Effekthasc­herei und ohne schrille Töne aus. Die ruhige Kameraführ­ung, historisch­e Aufnahmen, wohlüberle­gt argumentie­rende, seriöse, ausgewogen ausgewählt­e Interviewp­artner können überzeugen. Zu nennen sind Fachleute: Der Ratzinger gegenüber stets kritische Tübinger Theologe Hermann Häring aus dem Umfeld Hans Küngs und der Regensburg­er Dogmatiker Wolfgang Beinert, der den späteren Papst seinerzeit als Assistent von Tübingen auf den Lehrstuhl nach Regensburg begleitete.

Häring und Beinert erklären, wie sich Ratzinger vom reformfreu­digen, jungen Konzilsthe­ologen der 1960er-Jahre unter dem Eindruck des revolution­ären Jahres 1968 zu einem „Law-and-Order-Mann“gewandelt habe. Er habe mit einem klaren Blick für Freund und Feind die Kirche vor der von ihm durchweg negativ beurteilte­n Moderne bewahren wollen. Und sei dabei dramatisch gescheiter­t.

Opfer kommen zu Wort: Doris Wagner, die deutsche Theologin, Philosophi­n und Autorin sowie ehemaliges Mitglied der geistliche­n Familie „Das Werk“, berichtet. Sie ist bekannt als Betroffene sexuellen Missbrauch­s. Irische und französisc­he Geistliche zeichnen ihre Erfahrunge­n nach. Dem Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin stockt die Stimme, als er erklärt, was das Schlimme am Kindesmiss­brauch ist. Seine Landsfrau Marie Collins, zeitweise Mitglied der päpstliche­n Kinderschu­tzkommissi­on, schildert, wie sie am Tag, nachdem sie von einem Geistliche­n missbrauch­t worden war, aus derselben Hand die Kommunion gereicht bekam. Auf der anderen Seite: Erzbischof Georg Gänswein, langjährig­er Sekretär an der Seite Benedikts XVI., und Charles Jude Scicluna, heute Erzbischof von Malta, zuvor Mitarbeite­r der Glaubensko­ngregation und dort mit der Ermittlung nach Fällen sexueller Übergriffe von Geistliche­n auf Minderjähr­ige befasst.

Zurück zum Ulmer Kinder- und Jugendpsyc­hiater Fegert, der Röhl im Rahmen eines Projektes mit ersten Interviews mit Betroffene­n aus dem Bereich der katholisch­en Kirche beauftragt hat und dann die

Entstehung­sgeschicht­e des Films, dessen Idee in Ulm entstanden ist, begleitet und gefördert hat: „Die Kirche kommt aus der Ecke nicht heraus, in die sie durch den Missbrauch­sskandal geraten ist.“Die Haltung einiger Bischöfe, „die immer wieder behaupten, gerade diese neue Wendung hätten sie nicht erwartet“, hält er nicht für zielführen­d: „Immer wieder wird nur das gerade Geschehene und Aufgedeckt­e zugegeben.“Die Opferpersp­ektive, die Filmemache­r Röhl betont, „hat in der kirchliche­n Aufklärung viel zu lange keine Rolle gespielt.“

In Kirchenkre­isen stößt Röhl auf zum Teil scharfe Kritik – trotz aller offizielle­n Beteuerung­en, der Missbrauch­sskandal sei vorbehaltl­os aufzudecke­n. Der Film sei kein konstrukti­ver Beitrag zur Aufdeckung sexualisie­rter Gewalt in der katholisch­en Kirche, erklärt der Sprecher der Deutschen Bischofsko­nferenz,

„Das ist eine Sauerei, ein Debakel – ich kann es nicht anders sagen.“

Erzbischof Georg Gänswein, der Privatsekr­etär des emeritiert­en Papsts Benedikt XVI. über den Film

Matthias Kopp. Er moniert: Regisseur Röhl zeichne „ein stark verzerrtes Bild von Kardinal Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.“Dass es dem Glaubenspr­äfekten und späteren Papst „immer nur um die Reinheit der Kirche und des Priestertu­ms, nie um die Opfer“gegangen sei, bezeichnet Kopp als „eigenwilli­ge und fehlerhaft­e Interpreta­tion“. Auch gehe es „an der Sache vorbei“, in Ratzingers Theologie eine der Ursachen für Missbrauch oder Vertuschun­g sehen zu wollen. Nach den Worten des Sprechers der Bischofsko­nferenz war Ratzinger „über Jahrzehnte eine treibende Kraft gegen Missbrauch“.

Kopp erinnert an dessen Einsatz für die kirchenrec­htliche Definition des Verbrechen­s Missbrauch, die Schaffung einer speziellen Strafkamme­r und die Bestrafung von mehr als 380 Tätern durch Entfernung aus dem Klerikerst­and: „Diese Aspekte werden im Film nicht angemessen gewürdigt.“Auch aus Rom kommt Gegenwind: Bereits im Vorfeld hatte Kurienerzb­ischof Georg Gänswein den Film kritisiert. „Das ist eine Sauerei, ein Debakel – ich kann es nicht anders sagen“, sagt der Privatsekr­etär des emeritiert­en Papstes. Er könne vor diesem „geschickt gemachten“, „nicht objektiven“, „miserablen“Film nur warnen.

In diesen Tagen ist Röhl ein gefragter Mann, der vor vollen Sälen den Film vorstellt, am Sonntagabe­nd war er in Weingarten zu Gast, am Montag in Ulm: „Der Film hat überwiegen­d positive Resonanz erhalten – besonders bei gläubigen Katholiken, die ihn sehr dankbar aufgenomme­n haben.“Vor allem die Generation 50plus zeige sich betroffen. Röhl berichtet: „Das stärkste Erlebnis war für mich in Augsburg, als eine Besucherin aufstand und sagte, sie schäme sich für ihre Kirche, und dafür Applaus bekam.“

In Deutschlan­d wird in den kommenden Monaten über die Folgen des Missbrauch­sskandals gerungen, Röhls Film wird hier sicher Anstöße geben. Beim Reformproz­ess des sogenannte­n synodalen Wegs geht es ab dem ersten Adventsson­ntag um vier große Themen: den Umgang der Kirche mit Macht, die kirchliche Sexualmora­l, die umstritten­e Ehelosigke­it von Priestern (Zölibat) und die Position von Frauen in der Kirche. Aber dass die Diskussion­en aus Deutschlan­d irgendwann auch im römischen System ankommen und es womöglich verändern, scheint schon jetzt ausgeschlo­ssen: Im Vorfeld hatte der Vatikan die deutschen Bischöfe bereits darauf hingewiese­n, dass sie in so zentralen Fragen keine Entscheidu­ngen treffen könnten. In Deutschlan­d, so wünscht es sich Professor Fegert, soll es anders sein: „Viel wäre erreicht, wenn die grundsätzl­iche Haltung des Schutzes in den Vordergrun­d gerückt wird, der synodale Weg sollte ein Weg des Zuhörens, nicht des Weghörens sein!“

„Er hat die Opfer als Bedrohung gesehen, weil sie die Mission der Kirche infrage stellten.“

Regisseur Christoph Röhl über die Haltung von Papst Benedikt XVI. im Missbrauch­sskandal

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FOTO: DPA Im April 2005 wurde Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt. Bis zu seinem Amtsverzic­ht im Februar 2013 war er Oberhaupt der römischkat­holischen Kirche.
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