Papst Benedikt
eine tragische Figur im Missbrauchsskandal?
Die katholische Kirche in Zeiten der Vertrauenskrise – Im umstrittenen Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“steht Joseph Ratzinger im Mittelpunkt
- Der weltweite Missbrauchsskandal hat die katholische Kirche in Deutschland in ein Dilemma gestürzt: „Positiv ist zu vermerken, dass es kaum eine Organisation gibt, die so viel und auch gut gearbeitet hat, um sich der Herausforderung zu stellen und Präventionskonzepte zu entwickeln“, sagt der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Michael Fegert, „gleichzeitig hat die katholische Kirche mit einem massiven Vertrauensverlust zu kämpfen. Insofern ist es bemerkenswert, dass Bischof Fürst in seiner Neujahrsansprache 2019 eine neutrale Auditierung auch kirchlicher Einrichtungen gefordert hat.“Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm hat sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch beschäftigt, auch eigene Studien zum Dunkelfeld vorgelegt: Mehr als 100 000 Opfer sexuellen Missbrauchs in katholischen Einrichtungen soll es deutschlandweit geben; genauso viele auf evangelischer Seite. Doch das ist nicht spezifisch für die Kirchen, so ist sich Fegert sicher: „In allen Institutionen zusammengenommen, also Schulen, Sportvereinen, der Jugendarbeit und in Krankenhäusern, sind zwei bis drei Prozent der Kinder und Jugendlichen Übergriffen ausgesetzt.“
Doch im Fokus der Öffentlichkeit steht nach wie vor die katholische Kirche: Seit der Jesuit Klaus Mertes im Jahr 2010 die ersten Fälle in Deutschland publik machte, verschärft sich die Krise zusehends. Die Zahlen sind eindeutig: Die deutschen Bischöfe hatten im September 2018 eine Studie zu sexuellem Missbrauch vorgestellt. Demnach sollen zwischen den Jahren 1946 und 2014 mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 Minderjährige missbraucht haben. Weltweit wird das Thema seit den 1990er-Jahren diskutiert, vor allem in Amerika und Irland. Ein Ende der Diskussionen ist ebenso wenig in Sicht wie ein Ende des Skandals: Experten fürchten, dass vor allem in Afrika und Asien weitere Missbrauchsfälle aufgedeckt werden.
Auf dem Höhepunkt der Debatte, in der die katholische Kirche weltweit um ihre Glaubwürdigkeit ringt, hat jetzt der deutsch-britische Regisseur Christoph Röhl seinen Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“vorgestellt, der sich kritisch mit der Rolle des emeritierten Papstes Benedikt XVI. (20052013) auseinandersetzt: Röhl zeichnet nach, wie aus seiner Sicht aus dem bayerischen Priester, späteren Professor, Erzbischof und Kardinal Joseph Ratzinger eine tragische Figur Shakespeare’schen Ausmaßes wird: „Ein Macbeth, der sehenden Auges als Verteidiger der Wahrheit Schuld auf sich lädt“, wie Röhl der „Schwäbischen Zeitung“sagt. Weil Ratzinger – so sieht es der Regisseur – die Bewahrung der Institution Kirche vor die Aufklärung des Skandals und vor allem vor die Sorge um die Opfer des Missbrauchsskandals stellt.
Denn nach Meinung von Experten wie Jörg Fegert ist es eben nicht so, dass die Kirche nur in dem Maß betroffen ist wie andere Teile der Gesellschaft auch. Vielmehr gebe es strukturelle Ursachen, die den Missbrauch begünstigten. Röhl deckt diese Strukturen innerhalb der katholischen Kirche auf, die zu dem massiven Vertrauensverlust durch den Missbrauchsskandal geführt hätten. Beispielsweise weist er nach, dass die römische Glaubenskongregation gleichzeitig als Behörde der Anklage, der Rechtsprechung und der Berufung dient – ohne eine andere Instanz, die Fehler korrigieren könnte. „Joseph Ratzinger war ein Teil dieses fehlerhaften Systems“, betont der 52-Jährige und fügt hinzu: „Er hat die Opfer als Bedrohung gesehen, weil sie die Mission der Kirche infrage stellten. In dem Film gibt es den Satz, dass er eher bereit war, dass neun Opfer nicht zu ihrem Recht gekommen sind, als dass Millionen von Katholiken an ihrem Glauben zweifeln. Dieser Satz sagt alles aus.“
Fünf Jahre lang hat Röhl, er ist nach eigenen Angaben kirchenfern und atheistisch aufgewachsen, sich mit Ratzinger beschäftigt. Er hat in seinem Umfeld recherchiert und glaubt, dass der heute 92-Jährige eine Schlüsselfigur im Missbrauchsskandal ist – und falsch reagiert hat: „Ratzinger hat, im Gegensatz zu anderen, die sexuellen Missbrauch völlig dementiert und als große Lüge der säkularen Welt dargestellt haben, zumindest geglaubt, dass er stattfand. Er hat die Gefahr für die Kirche erkannt. Die Frage ist, was er mit diesem Wissen getan hat. Er hat das innerhalb der Kirche geheim gehalten, nichts nach außen dringen lassen. Alles intern regeln, alles vertuschen – das hat er getan.“
Röhl, der sich als Dokumentarfilmer einen Namen gemacht und bereits über den Missbrauchsskandal an der hessischen Odenwaldschule einen durchaus umstrittenen Film gedreht hat, kommt ohne Effekthascherei und ohne schrille Töne aus. Die ruhige Kameraführung, historische Aufnahmen, wohlüberlegt argumentierende, seriöse, ausgewogen ausgewählte Interviewpartner können überzeugen. Zu nennen sind Fachleute: Der Ratzinger gegenüber stets kritische Tübinger Theologe Hermann Häring aus dem Umfeld Hans Küngs und der Regensburger Dogmatiker Wolfgang Beinert, der den späteren Papst seinerzeit als Assistent von Tübingen auf den Lehrstuhl nach Regensburg begleitete.
Häring und Beinert erklären, wie sich Ratzinger vom reformfreudigen, jungen Konzilstheologen der 1960er-Jahre unter dem Eindruck des revolutionären Jahres 1968 zu einem „Law-and-Order-Mann“gewandelt habe. Er habe mit einem klaren Blick für Freund und Feind die Kirche vor der von ihm durchweg negativ beurteilten Moderne bewahren wollen. Und sei dabei dramatisch gescheitert.
Opfer kommen zu Wort: Doris Wagner, die deutsche Theologin, Philosophin und Autorin sowie ehemaliges Mitglied der geistlichen Familie „Das Werk“, berichtet. Sie ist bekannt als Betroffene sexuellen Missbrauchs. Irische und französische Geistliche zeichnen ihre Erfahrungen nach. Dem Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin stockt die Stimme, als er erklärt, was das Schlimme am Kindesmissbrauch ist. Seine Landsfrau Marie Collins, zeitweise Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission, schildert, wie sie am Tag, nachdem sie von einem Geistlichen missbraucht worden war, aus derselben Hand die Kommunion gereicht bekam. Auf der anderen Seite: Erzbischof Georg Gänswein, langjähriger Sekretär an der Seite Benedikts XVI., und Charles Jude Scicluna, heute Erzbischof von Malta, zuvor Mitarbeiter der Glaubenskongregation und dort mit der Ermittlung nach Fällen sexueller Übergriffe von Geistlichen auf Minderjährige befasst.
Zurück zum Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Fegert, der Röhl im Rahmen eines Projektes mit ersten Interviews mit Betroffenen aus dem Bereich der katholischen Kirche beauftragt hat und dann die
Entstehungsgeschichte des Films, dessen Idee in Ulm entstanden ist, begleitet und gefördert hat: „Die Kirche kommt aus der Ecke nicht heraus, in die sie durch den Missbrauchsskandal geraten ist.“Die Haltung einiger Bischöfe, „die immer wieder behaupten, gerade diese neue Wendung hätten sie nicht erwartet“, hält er nicht für zielführend: „Immer wieder wird nur das gerade Geschehene und Aufgedeckte zugegeben.“Die Opferperspektive, die Filmemacher Röhl betont, „hat in der kirchlichen Aufklärung viel zu lange keine Rolle gespielt.“
In Kirchenkreisen stößt Röhl auf zum Teil scharfe Kritik – trotz aller offiziellen Beteuerungen, der Missbrauchsskandal sei vorbehaltlos aufzudecken. Der Film sei kein konstruktiver Beitrag zur Aufdeckung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche, erklärt der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz,
„Das ist eine Sauerei, ein Debakel – ich kann es nicht anders sagen.“
Erzbischof Georg Gänswein, der Privatsekretär des emeritierten Papsts Benedikt XVI. über den Film
Matthias Kopp. Er moniert: Regisseur Röhl zeichne „ein stark verzerrtes Bild von Kardinal Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.“Dass es dem Glaubenspräfekten und späteren Papst „immer nur um die Reinheit der Kirche und des Priestertums, nie um die Opfer“gegangen sei, bezeichnet Kopp als „eigenwillige und fehlerhafte Interpretation“. Auch gehe es „an der Sache vorbei“, in Ratzingers Theologie eine der Ursachen für Missbrauch oder Vertuschung sehen zu wollen. Nach den Worten des Sprechers der Bischofskonferenz war Ratzinger „über Jahrzehnte eine treibende Kraft gegen Missbrauch“.
Kopp erinnert an dessen Einsatz für die kirchenrechtliche Definition des Verbrechens Missbrauch, die Schaffung einer speziellen Strafkammer und die Bestrafung von mehr als 380 Tätern durch Entfernung aus dem Klerikerstand: „Diese Aspekte werden im Film nicht angemessen gewürdigt.“Auch aus Rom kommt Gegenwind: Bereits im Vorfeld hatte Kurienerzbischof Georg Gänswein den Film kritisiert. „Das ist eine Sauerei, ein Debakel – ich kann es nicht anders sagen“, sagt der Privatsekretär des emeritierten Papstes. Er könne vor diesem „geschickt gemachten“, „nicht objektiven“, „miserablen“Film nur warnen.
In diesen Tagen ist Röhl ein gefragter Mann, der vor vollen Sälen den Film vorstellt, am Sonntagabend war er in Weingarten zu Gast, am Montag in Ulm: „Der Film hat überwiegend positive Resonanz erhalten – besonders bei gläubigen Katholiken, die ihn sehr dankbar aufgenommen haben.“Vor allem die Generation 50plus zeige sich betroffen. Röhl berichtet: „Das stärkste Erlebnis war für mich in Augsburg, als eine Besucherin aufstand und sagte, sie schäme sich für ihre Kirche, und dafür Applaus bekam.“
In Deutschland wird in den kommenden Monaten über die Folgen des Missbrauchsskandals gerungen, Röhls Film wird hier sicher Anstöße geben. Beim Reformprozess des sogenannten synodalen Wegs geht es ab dem ersten Adventssonntag um vier große Themen: den Umgang der Kirche mit Macht, die kirchliche Sexualmoral, die umstrittene Ehelosigkeit von Priestern (Zölibat) und die Position von Frauen in der Kirche. Aber dass die Diskussionen aus Deutschland irgendwann auch im römischen System ankommen und es womöglich verändern, scheint schon jetzt ausgeschlossen: Im Vorfeld hatte der Vatikan die deutschen Bischöfe bereits darauf hingewiesen, dass sie in so zentralen Fragen keine Entscheidungen treffen könnten. In Deutschland, so wünscht es sich Professor Fegert, soll es anders sein: „Viel wäre erreicht, wenn die grundsätzliche Haltung des Schutzes in den Vordergrund gerückt wird, der synodale Weg sollte ein Weg des Zuhörens, nicht des Weghörens sein!“
„Er hat die Opfer als Bedrohung gesehen, weil sie die Mission der Kirche infrage stellten.“
Regisseur Christoph Röhl über die Haltung von Papst Benedikt XVI. im Missbrauchsskandal