Mahnungen und Freude am Schicksalstag
Kanzlerin Merkel bittet um Geduld bei Wiedervereinigung – Gedenken an Judenpogrom
(KNA/epd/dpa) - Novemberrevolution, Hitler-Putsch, Novemberpogrome und Mauerfall – der 9. November gilt als Schicksalstag Deutschlands. In diesem Jahr richtet sich die größte Aufmerksamkeit auf den Mauerfall vor 30 Jahren, die friedliche Revolution. Vor den Feierlichkeiten an diesem Samstag in Berlin, zu denen Vertreter vieler EUStaaten und der früheren Alliierten Frankreich, Großbritannien, Russland und der USA erwartet werden, debattierte der Bundestag am Freitag über die Wende. Neben Provokationen vonseiten der AfD fielen viele positive Worte. Vom „glücklichsten Tag der deutschen Geschichte“war die Rede, vom „großen Wunder“. Lob kam auch von Christian Hirte (CDU), dem Ostbeauftragten der Regierung. „Ich glaube, wir sind schon heute wirklich eins, aber man darf nicht annehmen, dass Deutschland einheitlich überall komplett gleich sei“, sagte er im SWR.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bat in Sachen Wiedervereinigung um Geduld. „Bei manchem, von dem man gedacht hat, dass es sich zwischen Ost und West angleichen würde, sieht man heute, dass es doch eher ein halbes Jahrhundert oder länger dauert“, sagte die Politikerin der „Süddeutschen Zeitung“. „Auch die Mühen der Freiheit, alles entscheiden zu müssen, müssen gelernt werden“, sagte sie. „Man muss sich viel mehr kümmern, das ist ja auch nicht allen in die Wiege gelegt. Das Leben in der DDR war manchmal auf eine bestimmte Art fast bequem, weil man manche Dinge einfach gar nicht beeinflussen konnte.“
Zuvor war am Freitag in Bundestag und Bundesrat deutlich geworden, dass der 9. November ohnehin ein schwieriges Datum bleibt. Der Tag markiert auch eine der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte: Am Abend des 9. November 1938 vollzog sich in Deutschland der bis dahin größte Judenpogrom der Neuzeit. Mehr als 1300 Menschen starben. Mehr als 1400 Synagogen im Deutschen Reich wurden verwüstet, etwa 7500 Geschäfte geplündert. Mehr als 30000 Juden wurden in Konzentrationslager gebracht.
Nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle setzen sich nun mehrere Bundesländer dafür ein, dass antisemitische Straftaten härter geahndet werden. „Wir müssen alles dafür tun, dass die jüdischen Bürgerinnen und Bürger hier sicher leben können“, sagte Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) im Bundesrat. Er schlug vor, dass antisemitische Motive künftig bei allen Straftaten strafverschärfend wirken sollten. Baden-Württemberg schloss sich dem Antrag an.
Ebenfalls auf einen 9. November fällt in Deutschland das Ende der Monarchie. Jener Tag im Jahr 1918, an dem der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die Republik ausrief, gilt als Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Doch es ist noch mehr Historisches geschehen an oder kurz vor einem 9. November: 1923 brach der sogenannte Hitler-Putsch gegen die demokratische Reichsregierung in München kläglich zusammen. Und 1939 scheiterte am Vorabend des 9. November der geplante Bombenanschlag des Hermaringers Georg Elser auf Adolf Hitler.
Unser Mathe- und Physiklehrer war ein grauhaariger Mann mit vielen Falten und einem eher trockenen Humor. In seinen weißen Kittel schien er eingewachsen zu sein. Es war daher ein seltsamer Anblick, ihn am Morgen des 10. November 1989 zur ersten Stunde im Anzug durch die Tür des Mathematikraums unserer Ostberliner Schule kommen zu sehen. Er schwenkte die aktuelle Ausgabe der „Berliner Morgenpost“über seinem Kopf und hatte offensichtlich eine fröhliche Nacht hinter sich. „Ick komm grade vom Ku’damm“, rief er in seinem Berliner Dialekt und lachte in einer Tour. Ein Taxifahrer hatte ihn gratis durch Westberlin gefahren. Er war trunken vor Freude. Die Mauer war weg.
Im Film hätte man bei dieser Szene abgeblendet, vielleicht noch mit einem Schwenk auf jubelnde Menschen, die einander nach Jahren wieder in die Arme sinken durften, und hupende Trabis auf den Straßen jenseits des Betonwalls. Doch die Geschichte ließ sich Zeit mit dem Happy End. Was uns damals nicht klar war: Statt des schnellen glücklichen Zusammenwachsens von Ostdeutschen und Westdeutschen stand meiner Klasse, der ganzen Nation, eine lange Zeit der Missverständnisse, der Vorurteile und des mühsamen Kennenlernens bevor.
Seit nunmehr 30 Jahren versuchen die beiden Landesteile herauszufinden, wie der jeweils andere tickt. Für Westdeutsche war das eher Hobby, für Ostdeutsche überlebensnotwendig. Im Westen ging das Leben nach dem Mauerfall oft nahtlos weiter, die Exkurse in die Psychologie des Ostens waren meist lediglich ein unterhaltsames Zoo-Erlebnis. Man gab sich ihnen mit gefälligem Lächeln oder aber leichtem Schaudern hin, um danach wieder mit seinem Leben fortzufahren. Im Gegensatz dazu war für Ostdeutsche die Deutung des Westens und die Anpassung an ihn überlebenswichtig, um sich in der neuen Welt zurechtfinden zu können. Gleichzeitig verursachte das Verschwinden des eigenen Landes ein Trauma, egal, wie man zu ihm stand. Und vielen meiner Landsleute steckt diese Bewältigung immer noch in den Knochen. Es wird wohl noch mal mindestens drei Jahrzehnte dauern, bis Sachsen oder Brandenburger sich nicht mehr in erster Linie als Ostdeutsche sehen.
Für Westdeutsche meiner Generation ist es oft schwer, sich vorzustellen, wie es war, als das Land, in dem man sein komplettes bewusstes Leben verbracht hat, sich binnen kürzester Zeit auflöst. Ich war 17, als die Mauer fiel. Meine ganze Kindheit hatte ich in der DDR gelebt – in einer „Diktatur des Proletariats“, wie sie sich selbst bezeichnete; ich kannte aus eigenem Erleben nichts anderes, von Reisen in andere Ostblockstaaten wie die Sowjetunion und Ungarn einmal abgesehen. Nun zerbröselte dieses Land. Und mit ihm auch alles, was mein künftiges berufliches Leben ausmachen sollte.
Denn eigentlich war mein Leben bis zum Jahr 2000 vorbestimmt. So war das in der DDR. Mein Volontariat beim Rundfunk sollte 1990 beginnen, danach hätte ich drei Jahre Wehrdienst leisten müssen und fünf Jahre lang Regionalwissenschaften studiert. Anschließend, irgendwann um die Jahrtausendwende, wäre eine Stelle beim Radio für mich frei gewesen. Vorbei. Der Sender, bei dem ich mich beworben hatte, wurde binnen weniger Monate abgewickelt. Irgendwann sandte mir jemand meine Unterlagen zurück, „mit den besten Wünschen für Ihre berufliche Zukunft“, und ich stand ganz am Anfang.
Dass mein sorgsam durchgeplantes Leben ins Wanken geraten würde, schwante mir schon, als ich mich am Samstag nach der Maueröffnung neugierig auf den Weg zum Grenzübergang Invalidenstraße machte, um den Westen mit eigenen Augen zu sehen. Den ganzen Tag wanderte ich durch die Stadt, die zuvor hinter der Mauer verborgen war und sog das Glitzern und den Überfluss in den Auslagen auf. Und den süßlichen Parfumduft, der beim Betreten jeglichen Kaufhauses in meine Nase stieg, kann ich heute noch riechen.
Die Wochen und Monate danach waren geprägt von all den Enthüllungen, wie fern die offizielle Linie der DDR-Führung von ihrem tatsächlichen Gebaren war. Die Menschen sahen, in welch krassem Widerspruch die Brutalität und Bösartigkeit des DDR-Geheimdienstes zu den Sprüchen standen, dass im Sozialismus der Mensch im Mittelpunkt stehe. Die Westprodukte in der Wandlitzer Siedlung der SED-Führung entlarvten die Verteufelung des kapitalistischen Systems als Heuchelei.
Ein paar Monate zuvor hatte ich einen Eindruck bekommen, wie groß die Unzufriedenheit der DDRBürger auf dem Lande war. Ich war mit dem Zug im thüringischen Heiligenstadt angekommen, es fuhr kein Bus mehr zu der Jugendherberge, in die ich musste. Ein bärtiger Mann, der auf dem Beifahrersitz einen Eimer mit riesigen Hühnereiern transportierte, nahm mich in seinem weißen Wartburg mit. Als ich ihm erzählte, dass ich Journalist werden wollte, fragte er mich fassungslos: „In diesem Verreckerstaat?“Das war ein Wort, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging.
Viel später hat mir der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, in einem Interview mal gesagt, für DDR-Bürger sei Zukunft einfach gefüllte Zeit gewesen. Vom
Kindergarten bis zum Altersheim war alles geregelt – bis 1989 die Wende kam. Auf einmal standen die DDR-Bürger vor einer Situation, mit der die meisten nicht gelernt hatten umzugehen: „Plötzlich stellte man fest: Zukunft ist freie Zeit, über die man selber entscheiden muss“, betonte de Maizière.
Für Menschen wie mich war das eine Chance: Der Zufall schleuderte mich mit der Volljährigkeit in das neue System – und entband mich von der Gefahr, in das alte zu sehr verstrickt zu werden. Plötzlich eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten. Gleich nach der Währungsunion im Sommer 1990 fuhr ich für eine Woche nach Großbritannien, ein paar Monate später konnte ich anfangen zu studieren und reiste in den Jahren danach um die Welt. Indien, Sri Lanka, Indonesien, Thailand, die USA, die Malediven, Australien – Länder, die mir als DDRBürger verschlossen geblieben wären. Für ein Jahr ging ich als Student des EU-Programms „Erasmus“nach London.
Während sich das Ende der DDR für mich als ein Anfang erwies, war das beileibe nicht typisch für den Osten. 2,5 Millionen Menschen wurden nach Berechnungen des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dort zwischen 1989 und 1991 arbeitslos, nachdem Tausende ehemals volkseigene Betriebe durch die Treuhand geschlossen worden waren. Und die Kurve stieg immer weiter. Im Jahr 2005 war jeder fünfte Ostdeutsche ohne Arbeit.
Das hinterließ Spuren. Denn Arbeit wurde in der DDR nicht nur als ein sinnstiftender Teil des Lebens zelebriert; das Land war stolz auf seine Vollbeschäftigung. Arbeit war darüber hinaus ein gesellschaftliches Muss. Menschen, die in der DDR keiner Arbeit nachgingen, wurden vom Staat als „asozial“gebrandmarkt und mussten Repressalien befürchten. Arbeitslosigkeit wurde auch aus diesem Grund von Ostdeutschen als Stigma empfunden.
Und wie reagierte der Westen auf diese Verzweiflung? Mit Bemerkungen, die Ossis sollten doch gefälligst die Ärmel hochkrempeln statt zu jammern. Solche Sätze kann man niemandem verübeln, der stets auf sich selbst vertraute und die Erfahrung gemacht hat, dass Eigeninitiative gepaart mit den richtigen Verbindungen ihn vorangebracht hat. Für viele meiner 16 Millionen Ostdeutschen waren solche Bemerkungen hingegen ein weiterer Mosaikstein im Bild, der nicht gewollte, arme Nachbar zu sein. Oder – um in Beziehungsvokabular zu sprechen – sich nicht angenommen und verstanden zu fühlen.
Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer, einer der Köpfe der DDRBürgerrechtsbewegung, hat es mal so beschrieben: Für DDR-Bürger war der Staat zugleich der strafende Vater und die umsorgende Mutter. Die Menschen wollten den strafenden Vater loswerden und wunderten sich, dass die umsorgende Mutter mit ihm verschwand. Letztlich fühlten sie sich als Vollwaisen. Vermutlich klingt das für westdeutsche Ohren wie larmoyanter, rührseliger Psycho-Kitsch. Aber in Umbruchprozessen wird die Psyche gern vergessen. Und bricht sich dann irgendwann Bahn, wenn der Mensch aus dem Überlebensmodus zurückschaltet.
Man kann diesen Minderwertigkeitskomplex ohnehin nicht verstehen, wenn man die friedliche Revolution außer Acht lässt. Es waren mutige Ostdeutsche, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und die den Weg für ihr Land bestimmen wollten. Damals ging es noch gar nicht um eine Wiedervereinigung Deutschlands. Wie Lothar de Maizière es ausdrückte: „Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Mauer vom Osten eingedrückt wurde.“
Und doch wurden die Bürgerrechtler überrollt von Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan und der Macht der Straße, die den Verführungen der Kaufhäuser nicht länger widerstehen wollte. Die Revolution, die in der DDR ihren Anfang nahm, wurde den Mutigen entwunden. Die Bitterkeit darüber lebt vielerorts fort – trotz allen materiellen Wohlstands. Es blieb ein Unterlegenheitsgefühl übrig, das daraus resultiert, dass die DDR 1990 der Bundesrepublik lediglich beitrat. Es war keine Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten. Es gab einen Sieger – und einen Verlierer.
Das Siegergefühl definierte denn auch den Umgang vieler Westdeutscher
mit dem Osten – dem Land, das der Springer-Verlag noch bis in die 1980er-Jahre hinein in Anführungszeichen schrieb, in dem seltsame Autos aus Plastik und Pappe konstruiert wurden und in das man zu Weihnachten Pakete mit Kaffee, Nylonstrümpfen und Schokolade schickte. Und dann kam von dort auch noch Undank zurück. Abermilliarden Euro flossen in den Osten, die meisten Städte erblühten, Straßen wurden schöner als im Westen – und trotz all des Geldes wagten es die Menschen zu jammern. Hinter diesem Missverständnis steckt eine Fehlannahme, die man auch in traditionellen Ehen antrifft. Einer schafft das Geld heran, putzt damit seine Partnerin heraus und verlangt, dass sie sich hingibt. Schließlich hat sie vor dem Traualtar Ja gesagt. Er nimmt sich aber nie die Zeit, sie tatsächlich zu verstehen und ist schließlich empört, wenn sie sich von ihm abwendet.
Den ersten Durchlauf dieser Schleife konnte man in den 1990erJahren besichtigen, als viele Ostdeutsche trotz der durchlebten Geschichte und ihrer SED-Vergangenheit die PDS wählten, was im Westen heftiges Unverständnis auslöste. Sie war eine Regionalpartei, die sich als Anwalt des Ostens inszenierte. Ihre historische Leistung besteht darin, Hunderttausende entwurzelte Kommunisten in das demokratische System geführt zu haben. Irgendwann war ihr Nachfolger, die Linke, ein normaler Teil des parlamentarischen Systems.
Und dann kam die AfD. Die Partei hat es geschafft, die Enttäuschungen und Unsicherheiten eines Teils der Ostdeutschen zu instrumentalisieren, obwohl ihre Führung fast ausschließlich aus Westdeutschen besteht. Die AfD nährt die Angst vor Fremden und die Sorge, dass sich die Gesellschaft, in die man sich mühevoll integriert hat, womöglich grundlegend verändern wird. Wenn dann auch noch der Staat in Teilen nicht mehr als Herr der Lage empfunden wird, keimt schnell das Verlangen nach einem harten Durchgreifen. Denn wie das Leben aus den Fugen gerät, wenn ein Staat die Kontrolle verliert, haben DDR-Bürger erlebt. Nach 1989 fing sie die Bundesrepublik auf. Aber was wäre, wenn selbst die wankt?
40 Jahre Teilung sind nicht einfach mal so zu reparieren. Bis man über eine Trennung hinweg ist, dauert es genauso lange, wie es die Beziehung gab, heißt es in Beziehungsratgebern. Vielleicht ist das Trauma der Ostdeutschen am besten in diesen Kategorien einzuordnen. Das Trennende hat auch mit den unterschiedlichen Codes zu tun, an denen Wessis und Ossis ihre jeweiligen ehemaligen Landsleute erkennen.
Den meisten Westdeutschen meiner Generation zaubert der Satz: „Psssst! Willst du ein unsichtbares Eis kaufen?“ein wissendes Lächeln aufs Gesicht. Während viele Ostdeutsche über diesen Sketch der Sesamstraße nur fragend die Augenbrauen zusammenkneifen, ist es den meisten Westdeutschen ein Rätsel, warum Ostdeutsche beim Spruch „Mächtig gewaltig!" anfangen zu grinsen – ein Running Gag aus den OlsenbandenFilmen. Weil solche und zahlreiche ähnliche Dinge fast über Nacht aus dem Alltag der Ostdeutschen verschwanden, ist ein Phantomschmerz übrig, den nachträgliche DVD-Veröffentlichungen und DDRMuseen nur ansatzweise lindern können. Und bis sich neue, gemeinsame Codes entwickeln, dauert es.
Dabei gab es bei all diesen Debatten auch viele Westdeutsche, die sich ehrlich Mühe gaben, den Osten zu verstehen. Meine Frau ist so eine. Eine fröhliche Rheinländerin, die den Ostdeutschen gern mehr Lockerheit und ein bisschen mehr Frohsinn verordnen würde. Tatsächlich leben wir die deutsche Einheit jeden Tag, in guten wie in schlechten Zeiten. Und unseren Kindern müssen wir inzwischen mühevoll erklären, wo in Berlin die Mauer stand, früher mal, vor 30 Jahren.
„Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Mauer vom Osten eingedrückt wurde.“
Lothar de Maizière, erster und letzter frei gewählter Ministerpräsident der DDR