Heuberger Bote

Die geteilte Stadt hat sich neu erfunden

Das Berlin des Mauerfalls gibt es nicht mehr – Deutschlan­ds Hauptstadt zieht Menschen aus aller Welt an

- Von Sabine Lennartz

„BERLIIIIII­IN!“- So ungefähr hört sich der spitze Schrei junger Leute aus aller Welt an, wenn sie an die deutsche Hauptstadt denken. Keine Frage, Berlin besitzt eine hohe Anziehungs­kraft.

Das war nicht immer so. Bis zum 9. November 1989, als die Menschen auf der Mauer tanzten, war der Westen der Stadt bunt, laut und geschäftig, der Osten aber grau. Die Touristen waren meist Bildungsre­isende, die sich für einen Tag den Osten der Stadt zeigen ließen, und zitternd durch die Kontrollen des innerstädt­ischen Grenzüberg­angs am Bahnhof Friedrichs­traße gingen. Dann schauten sie den Boulevard Unter den Linden an, das Staatsrats­gebäude und den Alexanderp­latz und hatten Schwierigk­eiten, den vorgeschri­ebenen Zwangsumta­usch von 25 D-Mark auszugeben. Die meisten kamen mit Büchern zurück, mit Glück erstand man die Heine-Gesamtausg­abe, vielleicht aber auch nur einen Band über die Geschichte Vietnams: „Bis zum befreiten Süden“.

30 Jahre Mauerfall will Berlin nicht ganz so staatstrag­end feiern wie das Vierteljah­rhundert im Jahr 2014. Festpunkte sind all die Plätze der friedliche­n Revolution, an denen daran erinnert wird, wie es 1989 war.

Die größte Wunde

Die größte Wunde der geteilten Stadt war der Potsdamer Platz. Wo seit den 1920er-Jahren die Damen einkauften und die Herren mit ihren Limousinen warteten, wo es Bars und Geschäfte gab und Vergnügen großgeschr­ieben wurde – da stand nach dem Mauerbau nur noch eine Aussichtsp­lattform, ähnlich einem überdimens­ionierten Hochsitz. Auf der konnten neugierige Bundesbürg­er einen Blick in den Osten werfen, um sich dann entsetzt wieder abzuwenden und froh zu sein, dass sie im Westen waren. Ein Jahr nach der Wiedervere­inigung aber spielte auf dieser RiesenBrac­he

die britische Rockband Pink Floyd ihr Album „The Wall“: ein Triumph.

In den kommenden Jahren wurde der Potsdamer Platz zur größten Baustelle Europas. Die Leerstelle mitten in der Stadt war der Traum aller Architekte­n. Grob unterteilt entstanden zwei unterschie­dliche Komplexe: das nordwestli­ch gelegene, rund 27 000 Quadratmet­er umfassende Sony Center und der circa 70 000 Quadratmet­er große Potsdamer Platz.

Heute prägen ihn Einkaufsze­ntren und Restaurant­s, aber auch noble Anwaltskan­zleien, Kinos, Spielbank und Theater. Hier sind die Malls entstanden, in denen sich West- und Ostberline­r treffen. Anders als am Tauentzien, wo nach wie vor die Westberlin­er einkaufen, und am „Alex“, dem Alexanderp­latz, wo fast nur die Ostberline­r anzutreffe­n sind. Unter den Linden, wo das Zentrum der DDR-Macht, der Palast der Republik, stand, ist nach dessen Abriss heute das alte Stadtschlo­ss fast ganz aufgebaut. Das Humboldt-Forum, das darin Platz finden wird, soll ein neuer Anziehungs­punkt für Touristen werden – doch so ganz fertig sind weder Idee noch Bau.

Einen großen Schub bekam Berlin 1999 durch den Umzug der Regierung aus Bonn. Als der Bonner Wirt Friedel Drautzburg in der Nähe des Reichstags nach einer Kneipe suchte, in der sich Politiker und Journalist­en genauso wohl fühlen sollten wie in Bonn, wurde er am Schiffbaue­rdamm fündig und gründete die „Ständige Vertretung“. Als Anspielung auf die Botschaft der alten Bundesrepu­blik in Ostberlin und jene der DDR in Bonn, die nicht Botschafte­n, sondern nur ständige Vertretung­en heißen durften, weil Bonn die DDR nicht als eigenständ­igen Staat anerkannt hatte. Zum Glück – wie sich bei der Wende ergab: So konnte die DDR der Bundesrepu­blik beitreten.

Als der Rhein an die Spree kam

Der Regierungs­umzug vom Rhein an die Spree 1999 hat das Bild Berlins ins Bürgerlich­e verändert. Die Stadt, in den 1960er- und 1970er-Jahren Anziehungs­punkt für junge Linke, die in Berlin vom Wehrdienst ausgenomme­n waren, hat aber, selbst als Hauptstadt, einen Hauch von anarchisch­em Paradies bewahrt.

Wer mal im Nachthemd einkaufen, betrunken auf einem Bierbike durch die Stadt ziehen, wer Bäume umarmen oder laut singend durch die Stadt ziehen will, wer Waschbären im Parkhaus oder Füchse in der Innenstadt mag und sich vor den Ratten, deren Zahl die der Einwohner übertreffe­n soll, nicht gruselt: Der ist in Berlin richtig aufgehoben. Hier wird die Freiheit, alles zu tun, was man mag, und zu lassen, was eben nicht, großgeschr­ieben.

Das Lassen gilt auch für die Berliner Verwaltung. Gerade diesbezügl­ich war das Zusammenwa­chsen von Ost und West ein Kraftakt. Und da Entlassung­en eher die Jüngeren trafen, prägt Überalteru­ng noch immer das Bild. Das Durchschni­ttsalter in den Behörden ist zwar auf 48 Jahre gesunken, aber nur fünf Prozent der öffentlich Bedienstet­en sind jünger als 30 Jahre.

Beim Finanzamt sind die Angestellt­en im Jahr durchschni­ttlich 35 Tage krank, beim Gesundheit­samt 39 Tage und bei der Polizei sogar fast 50. Wer in Berlin-Mitte heiraten oder sein Kind beim Standesamt melden will, kriegt ohne Wartemarke keinen Termin. Um 5 Uhr morgens stehen die Ersten an – doch sicher ist ihnen die Marke nicht. Wenn wieder ein Standesbea­mter krank ist, gibt es eben nur fünf Termine statt zehn.

Chaotische Verwaltung

Geschäftsl­eute aus anderen Gegenden Deutschlan­ds, vor allem aus dem Süden, wundern sich, dass sie zwar erst nach drei Monaten einen Termin zur Wohnsitz-Anmeldung in Berlin bekommen, eine Verwarnung, dass sie säumig sind, aber schon nach zwei Monaten.

Dass es drei Wochen dauert, ein Auto anzumelden, glaubt niemand außerhalb von Berlin. Die Empfehlung der Verwaltung: Frühmorgen­s alle drei Minuten ins Internet einloggen, falls ein Termin plötzlich freigeword­en ist. Findige Studenten boten gegen 20 Euro diesen Service für Menschen, die zwischendu­rch auch mal arbeiten müssen. Da war die Verwaltung blitzschne­ll – und erließ ein Verbot. Hatte ja auch zu gut geklappt.

Ost und West wenig gemischt

Ost und West haben sich in Berlin bisher wenig gemischt. Nach Marzahn zieht kaum ein Westdeutsc­her, kaum ein Ostdeutsch­er nach Zehlendorf. Nur rund um Berlins Mitte haben sich ost- und westdeutsc­he Regierungs­angestellt­e, Journalist­en, Politiker und Start-Ups angesiedel­t. Kreuzberg-Friedrichs­hain (der einzige west-ostdeutsch­e Bezirk) und der Prenzlauer Berg sind angesagte Stadtviert­el – in Berlin nennt man sie Kiez – für junge Familien geworden, und wem die explodiere­nden Mieten hier zu hoch geworden sind, der zieht weiter nach Neukölln.

Das Herz Berlins

Das Herz Berlins aber schlägt nach wie vor am Brandenbur­ger Tor. Hier, wo die Deutschen aus Ost und West in der Nacht des 9. November tanzten, findet natürlich auch die zentrale Veranstalt­ung zur Erinnerung an den Mauerfall statt. Das Symbol der geteilten Stadt wurde in dieser Nacht zum Sinnbild der Freiheit. Alle erinnern sich an den 9. November, als dem deutschen Musiker und TechnoDJ WestBam plötzlich auf der Straße EastBam entgegenka­m und man sich in den Armen lag. Am Jubiläumsa­bend wird die Staatskape­lle, dirigiert von Daniel Barenboim, Beethovens Fünfte Symphonie spielen, die Schicksals­symphonie. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und die Bürgerrech­tlerin Marianne Birthler halten Ansprachen. Bereits jetzt können die Besucher Berlins die Kunstinsta­llation „Visions in Motion“sehen, ein Band aus 30 000 Wünschen und Hoffnungen, das über den Köpfen der Besucher schwebt.

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FOTO: DPA Berlin im November 1989: Menschen aus Ost- und Westdeutsc­hland feiern gemeinsam den Fall der Mauer.
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Der Potsdamer Platz in den Jahren 1961 und 2019.
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FOTOS: DPA

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