Wie ein Fehler die Mauer zum Einsturz brachte
Der frühere SED-Bezirkschef Günter Schabowski hatte die Öffnung der Grenzen zu früh ausgerufen und damit das Ende der DDR besiegelt
(AFP/dpa) - Bei den Worten, die am Abend des 9. November den Fall der Berliner Mauer besiegelten, kam sogar der im Parteichinesisch geübte Ost-Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski ins Stocken: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden“, erklärte der Funktionär haspelnd auf einer routinemäßigen Pressekonferenz, ohne sich der Tragweite dieses Satzes bewusst zu sein. „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort … unverzüglich“, antwortete er auf die Frage eines Journalisten.
Mit der Verlesung einer neuen Reiseverordnung der SED-Führung, die den DDR-Bürgern die uneingeschränkte Ausreise in die Bundesrepublik ermöglichte, gab Schabowski verfrüht und ungewollt den Startschuss für die Grenzöffnung. Denn eigentlich sollte die neue Reiseregelung
erst einen Tag später in Kraft treten. Die um 19.07 Uhr verbreitete Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur ADN konnte die DDR-Bürger im ersten Augenblick kaum hinter dem Ofen hervorlocken. Die jahrzehntelange Erfahrung mit dem SEDRegime hatte die Menschen gelehrt, skeptisch zu sein gegenüber den offiziellen Verlautbarungen.
Erst Stunden später setzte ein Massenaufbruch gen Westen ein: Straßenbahnen füllten sich, vor den Kontrollstellen in der Invalidenstraße und der Bornholmer Straße bildeten sich die ersten Menschentrauben. Der in Bonn beratende Bundestag trat nach den ersten Meldungen in eine Sonderaussprache ein.
Gegen 22 Uhr nahmen Kolonnen von Trabis Kurs auf die Übergänge. Der Ansturm machte Einzelkontrollen unmöglich, schließlich resignierten die hilflosen Grenzposten, die vergeblich auf klare Anweisungen zur Ausreisepraxis gewartet hatten.
Nach den „Tor auf, Tor auf“-Rufen Zehntausender öffneten Soldaten die Schlagbäume, dann brachen alle Dämme: Tausende stürmten – teilweise ohne Passkontrolle – die Grenzanlagen zum Westteil der Stadt, wo sich unbeschreibliche Szenen abspielten: Fremde lagen sich in den Armen, grölten „Das ist Wahnsinn“und ließen Sektkorken knallen.
Unterdessen erreichte ein ganzer Zug von Trabis den West-Berliner
Kurfürstendamm und erfüllte die ganze Innenstadt mit bläulich-weißen Abgaswolken. Am Brandenburger Tor, wo es keinen Grenzübergang gab, kletterten die Menschen einfach über die Absperrungen, zogen sich an der Mauerkrone hinauf und sprangen auf der anderen Seite herunter. Die ersten „Mauerspechte“begannen, dem später zu Souvenirs zerstückelten Bauwerk mit Hammer und Meißel zu Leibe zu rücken.
Erst gegen 3.30 Uhr riegelten die DDR-Grenzsoldaten den Zugang zum Brandenburger Tor wieder ab. Doch da hatten Grenzgänger auf den „antifaschistischen Schutzwall“bereits jene Worte gepinselt, die Wirklichkeit werden sollten: „Die Mauer ist weg.“