Heuberger Bote

Mit dem Mauerfall wurde sie erwachsen

Nicole Arnhold erlebte den 9. November als 17-Jährige mit

- Von Frank Czilwa

- Die Euphorie und die Aufbruchst­immung von damals blinken noch heute in den Augen von Nicole Arnhold, wenn sie von den Tagen rund um den 9. November 1989 erzählt. Für die damals 17-Jährige aus Brandenbur­g, die heute in Balgheim lebt, markierte der Mauerfall auch die Wende zum Erwachsene­nleben.

„Nicole, zieh dich an! Die Mauer ist auf, wir fahren rüber!“An diesem späten Herbstaben­d des 9. November klopfte der Freund von Nicole Arnhold ans Fenster ihres Schlafzimm­ers in Falkensee in Brandenbur­g. Weil es aber schon spät war, zehn, halb elf, und sie schon im Bett lag, antwortete sie: „Lass mich schlafen, ich muss morgen früh raus.“Die 17Jährige habe sich damals einfach nicht getraut, ohne Erlaubnis der Eltern – die um die Zeit schon schliefen – mit dem Freund loszuziehe­n. „Ich war viel zu lieb und brav“, sagt Nicole Arnhold heute und schmunzelt.

Erst am Nachmittag des folgenden Tages, am 10. November 1989, ist Nicole Arnhold dann mit ihrem Freund und einem bekannten Paar zusammen erstmals über die Grenze gefahren. Ein Bus fuhr von Falkensee an den nahen Grenzüberg­ang nach Spandau in Westberlin. Ohne Geld und mit „null Ahnung“sind sie dann in Spandau in den Zug gestiegen, bis man dann irgendwann am Kudamm ankam.

Dort herrschte, trotz des kalten Abends, Partystimm­ung. Alle Läden und Lokale hatten auf, auch wenn die Besucher aus dem Osten noch kein Westgeld hatten, wurden sie überall eingeladen und kamen mit allen ins Gespräch. „Irgendwann war es mir fast zuviel“, erinnert sich Nicole Arnhold. Die Nacht verbrachte­n sie dann in diversen Discos. Bis am nächsten Morgen die Banken aufmachten, und man sich das „Begrüßungs­geld“von 100 D-Mark abholen konnte. „Da stand eine ganz, ganz lange Schlange an – aber das war man ja gewohnt“.

Die 100 Westmark hat Nicole Arnhold aber nicht einfach auf den Kopf gehauen, sondern erstmal „richtig behütet“und ganz bewusst überlegt, was sie sich mit dem Geld anschafft. Sie kaufte sich ein Buch von Burda Moden, um sich selbst Kleider nähen zu können. „Das war meine erste Investitio­n.“

Aufgewachs­en ist Nicole Arnhold in Falkensee, nur wenige Kilometer von Spandau entfernt. Die Hauptstraß­e von Falkensee machte einen großen Knick, erinnert sie sich. Der nicht benutzte Weg geradeaus hätte geradewegs in den zu West-Berlin gehörenden Bezirk Spandau geführt. Dennoch sei die Mauer im Alltag kaum ein Thema gewesen. „Man wollte uns Kinder auch davor schützen“, sagt sie. Später als Jugendlich­e bekam sie dann schon mehr mit: „Man hat schon mal in der Disco gehört, den oder den haben sie wegen Republikfl­ucht eingebucht­et.“

Im Herbst 1989 habe man zwar gespürt, dass sich etwas ändert, aber nicht genau gewusst, was kommt. „Meine Oma hat mir prophezeit, dass die Mauer eines Tages aufgeht - sie war dann mit eine der glücklichs­ten, als es wirklich soweit war.“

Nach der Maueröffnu­ng ging es dann fast jedes Wochenende nach Westberlin, um immer Neues zu entdecken. Im Alltagsleb­en in Falkensee habe sich nach dem Mauerfall aber zunächst wenig verändert. Doch kurz nach Eröffnung der Grenzen seien dann Autoverkau­fsstände „buchstäbli­ch wie Pilze aus dem Boden geschossen“. Beinah an jeder Straßeneck­e bot ein Automobilv­erkäufer „Westautos“an. Genauso schnell verwandelt­en sich leerstehen­de Büroräume zu Fahrschule­n, erinnert sich Nicole Arnhold, und Fachärzte (überwiegen­d Orthopäden und Gynäkologe­n, so Arnhold) machten ihre eigenen mit medizinisc­h neuester Technik ausgestatt­eten Arztpraxen auf.

Die Ängste, die Sorgen, die stellten sich erst nach ein paar Monaten ein. Als dann etwa ein westdeutsc­hes Unternehme­n die Schneidere­i, in der Nicole Arnhold arbeitete, übernahm, wurden die Chefs viel strenger und es ging so richtig los mit der Akkordarbe­it

und später auch Kurzarbeit.

Für Nicole Arnhold fiel die historisch­e Wende von 1989 mit ihrer eigenen biografisc­hen Wende von der Jugend zum Erwachsene­nleben zusammen. Sie hat nach 1989 kein altes Leben verloren, sondern sich ein neues aufbauen können. Schon im Sommer 1991 zogen zuerst die Eltern in den Raum Tuttlingen. Nicole Arnhold blieb mit 19 zunächst allein zuhause und zog dann Ende 1991 nach.

Stolz ist sie darauf, dass sie in der neuen Heimat im Landkreis Tuttlingen einen ganz neuen Beruf gelernt hat und sich zur Medizinisc­hen Fachangest­ellten ausgebilde­t hat.

Trotz zweier kleiner Kinder hat sie die Ausbildung durchgezog­en und sich in Balgheim ein neues Leben aufgebaut.

Doch „Berlin ist für mich immer noch eine Wahnsinnss­tadt“, und sie war auch schon öfter mal dort – auch mit ihrer Tochter. Auch jetzt noch verfolgte sie fasziniert jede Dokumentat­ion und jedes Fernsehspi­el, das von dieser Zeit erzählt.

Die Zeit von 1989 hat Nicole Arnhold bis heute geprägt. Heute wünscht sie sich diese erste Woche der Euphorie nach dem Mauerfall noch einmal erleben zu dürfen - mit dem Wissen von heute.

 ?? FOTO: ARNHOLD ?? Noch heute leuchten die Augen von Nicole Arnhold, wenn sie an die Aufbruchst­immung nach dem 9. November 1989 denkt und ihr Erinnerung­sstücke aus der Zeit hervorholt.
FOTO: ARNHOLD Noch heute leuchten die Augen von Nicole Arnhold, wenn sie an die Aufbruchst­immung nach dem 9. November 1989 denkt und ihr Erinnerung­sstücke aus der Zeit hervorholt.
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