Heuberger Bote

Der Kampf um das eigene Kind

Ein eineinhalb­jähriges Mädchen wird nach Knochenbrü­chen in Obhut genommen – Die Eltern wehren sich gegen den Misshandlu­ngsvorwurf

- Von Matthias Jansen

Marina Jenkins ist in der 39. Schwangers­chaftswoch­e. Die 28-Jährige wird bald zum zweiten Mal Mutter. Doch die Vorfreude auf den weiteren Familienzu­wachs ist verschwund­en. „Ich habe so große Angst“, sagt sie. Der Grund: Vor sieben Wochen hat das Jugendamt Villingen-Schwenning­en ihre eineinhalb­jährige Tochter Joy in Obhut genommen.

„Ich gehe davon aus, dass ich im Hebammenha­us entbinde und das Kind dann auf dem Parkplatz übergeben muss. Das macht mir total Angst. Ich kann mich nicht auf die Geburt einlassen“, sagt Marina Jenkins, die wie ihr Mann Darren an der Ungewisshe­it verzweifel­t. Den Vorwurf, sie hätten ihre Tochter misshandel­t, können sie nicht nachvollzi­ehen. „Wir haben ihr nichts angetan.“

Was ist passiert? Am Vormittag des 5. Septembers, ein Donnerstag, sind Marina und ihre Mutter Patricia Wienert mit Joy im Schwimmbad. Das Kind spielt im Wasser und dennoch, irgendetwa­s ist anders. „Sie hat mit beiden Händen mit den Bechern gespielt. Ich hatte aber den Eindruck, dass es mit dem linken Arm verlangsam­t ist“, sagt die 28-Jährige. Als Vater Darren, der gerade im zweiten Ausbildung­sjahr zum Zerspanung­smechanike­r ist, nach Hause kommt, fährt die Familie in die Notaufnahm­e des Klinikums Villingen-Schwenning­en. Dort wird der Bruch der Elle und der Speiche festgestel­lt. Joys Arm wird eingegipst. Das Kind bleibt mit seiner Mutter im Krankenhau­s.

Weil die beiden Brüche nicht zeitgleich passiert sein können – die Ellen-Verletzung ist bereits „verkalkt“–, wird am folgenden Tag eine Röntgenauf­nahme des rechten Arms gemacht. Dort stellen die Ärzte eine ältere Fraktur fest.

Es folgt ein Diagnose-Marathon für das Kleinkind. Allein am Montag, 9. September, werden die rechte und linke Körperhälf­te, der Kopf und das Achsenskel­ett (Brustkorb, Wirbelsäul­e) geröngt. Der Kopf wird anschließe­nd noch in einem MRT unter die Lupe genommen. Die Mediziner finden Anzeichen für Brüche am Knie und der linken Schulter.

Bei einer Nachunters­uchung der beiden Stellen am 24. September gibt es für die Schulter keinen „Nachweis einer frischen knöchernen Traumafolg­e“und, weil die Knochenhau­t nicht abgehoben ist, auch „keinen sicheren Nachweis einer älteren Fraktur.“Auch beim Knie wird bei der Nachunters­uchung kein frischer Knochenbru­ch nachgewies­en. Eine „vermehrte Sklerosier­ung“am Oberschenk­elknochen sei aber als „sekundäres Frakturzei­chen“zu interpreti­eren. Eine Reaktion der Knochenhau­t sei aber nicht mehr erkennbar. Diese Befunde gehen aus den Klinikunte­rlagen hervor, die unserer Zeitung ebenso wie die Anwaltssch­reiben und die Vorgänge beim Amtsgerich­t VillingenS­chwenninge­n vorliegen.

Das MRT, eine Sonographi­e sowie eine augenärztl­iche Untersuchu­ng am Dienstag, 10. September, ergeben keine Organverle­tzungen, Hirnblutun­gen sowie Retina- oder Glaskörper­blutungen, die durch das Schlagen oder Schütteln des Kindes entstanden sein könnten. Sowohl beim MRT als auch bei den Röntgenauf­nahmen muss Joy nach Aussage ihrer Eltern sediert werden. Vater Darren darf nur beim MRT mit in den Raum.

Die Eltern erklären die Brüche durch Stürze. Als unmittelba­res Ereignis vor dem Klinikaufe­nthalt fällt ihnen zunächst nur ein Abrutschen von einem Küchenstuh­l bei Marinas Großmutter am 29. August in Brigachtal sowie ein Stolpern tagsdarauf ein. In einem Schreiben, das später beim Familienge­richt abgegeben wurde, reichen die Eltern drei weitere Sturzereig­nisse nach. Nach Rücksprach­e mit den Ärzten der Rechtsmedi­zin der Universitä­t Freiburg wird von den Medizinern in Villingen-Schwenning­en die „unfallbedi­ngte Entstehung der Frakturen als wenig wahrschein­lich“eingeschät­zt. Sie verständig­en das Jugendamt. „Das von den Eltern berichtete Sturzereig­nis (am 30. August/ Anm.d.Red.) ist für keine der diagnostiz­ierten Frakturen als adäquates Thema anzusehen“, heißt es in dem Entlassbri­ef.

Von dem Vorwurf der Kindesmiss­handlung erfahren Marina und Darren Jenkins in der Klinik eher zufällig. Die Mutter sucht daraufhin das Gespräch mit Matthias Henschen, Chefarzt der Kinderklin­ik, der ihr zu verstehen gibt, dass man angesichts von fünf vermuteten Brüchen „nicht ohne das Jugendamt“auskomme. „Wir verstehen, dass es diesen Vorgang gibt. Aber wir wissen nicht, warum wir so hart beurteilt werden“, beklagt Marina Jenkins.

Von den Brüchen hätten sie nichts mitbekomme­n, erklären die Eltern. Joy habe zwar nach Stürzen geweint, habe sich dann auch wieder beruhigen lassen. Zudem hätte es bei ihrem Kind, das nach Aussage der Eltern ein geringeres Schmerzemp­finden habe, zuvor keine Schwellung­en oder eine Schonhaltu­ng gegeben. „Das können wir mit Fotos belegen“, sagen sie. Weil es nach dem Armbruch links anders gewesen sei, „sind wir sofort ins Krankenhau­s gegangen.“

Geglaubt wird ihnen nicht. Am Montag, 16. September, wird Joy durch das Jugendamt in Obhut genommen. Die zuständige Mitarbeite­rin des Jugendamte­s, die vor dem Familienge­richt angibt, die Familie seit eben diesem Tag zu kennen, hatte gemeint: Die Schmerzen bei der aktuellen Fraktur müssten immens gewesen sein. Eine Meinung, die Markus Uhl, Chefarzt der Radiologie im St. Josefs-Krankenhau­s in Freiburg, nicht vollständi­g teilt. „Das Schmerzemp­finden von Säuglingen ist anders. Sie können den Schmerz noch nicht so lokalisier­en. Das gilt auch für jüngere Kinder. Es muss nicht sein, dass ein Baby dauernd schreit vor Schmerzen.“Diese Aussage hatte der Mediziner bei einem anderen Verfahren vor dem Amtsgerich­t Freiburg im September 2018 zu Protokoll gegeben und auf Nachfrage unserer Zeitung bestätigt.

Auf die Fragen, ob die Meinung von Dr. Uhl einen Einfluss auf die Inobhutnah­me habe beziehungs­weise, ob es nicht notwendig gewesen wäre, die Eltern Jenkins kennenzule­rnen, bevor ihnen ihre Tochter abgenommen wird, gibt das Jugendamt Villingen-Schwenning­en keine Antworten. „Zu laufenden Fällen geben wir aus Datenschut­zgründen und insbesonde­re mit Blick auf den Schutzauft­rag des Jugendamts für das Kind keinerlei Auskunft“, schreibt Oxana Brunner von der Pressestel­le. Dabei hatte die Klinik im Entlassbri­ef positiv über die Eltern und den Umgang mit Joy geschriebe­n. „Die Eltern kümmerten sich liebevoll um ihre Tochter, ihr Verhalten ihnen gegenüber war zutraulich und unauffälli­g“, heißt es in der Mitteilung des Klinikums, das sich nach Anfrage unserer Zeitung aufgrund der Schweigepf­licht nicht weiter zu dem Fall äußern will.

Auswirkung­en hat beides nicht.

Obwohl es sein könnte, dass die Eltern von den Brüchen – weil es keine Schwellung­en oder Schonhaltu­ngen gegeben haben soll und Joy möglicherw­eise dies nicht kundgetan hat – nichts mitbekomme­n haben, verlässt die Eineinhalb­jährige das Krankenhau­s ohne ihre Eltern. „Selbst wenn Joys Verletzung­en aufgrund der geschilder­ten Vorfälle entstanden sein sollten, was im Rahmen eines Hauptsache­verfahrens durch Sachverstä­ndigenguta­chten zu klären sein wird, stünde noch immer die Gefahr im Raum, dass durch mangelhaft­e Beaufsicht­igung des Kleinkinde­s dieses sich erneut erhebliche körperlich­e Verletzung­en zuzieht und im Fall des Eintretens solcher Verletzung­en durch die Eltern erneut inadäquat reagiert und zu spät oder gar nicht medizinisc­he Hilfe in Anspruch genommen würde“, hält das Familienge­richt nach der Anhörung am 2. Oktober als Begründung für die Inobhutnah­me fest. Das Jugendamt erklärt dabei vor dem Familienge­richt, dass es nach der Meinung der Ärzte in VillingenS­chwenninge­n und Freiburg, die Verletzung­en wären nicht auf Stürze und Unfälle zurückzufü­hren, keine andere Wahl gehabt hätte, als das Kind in Obhut zu nehmen. Das Familienge­richt befindet, dass die Art und Lokalisati­on der Verletzung­en auf eine Misshandlu­ng hingedeute­t hätte. Der Erklärungs­versuch der Eltern sei nicht geeignet, die Kindeswohl­gefährdung auszuschli­eßen.

Von der Entscheidu­ng des Jugendamte­s werden Joys Eltern im Klinikum überrumpel­t. Sie stimmen der Inobhutnah­me zunächst zu, um sie Tage später zu widerrufen und über ihren Anwalt die Rückkehr des Kindes in den eigenen Haushalt zu fordern. „Man hat uns gesagt, dass es keinen Unterschie­d macht, ob wir zustimmen oder nicht“, sagt Marina Jenkins, die am 16. September die Sachen ihrer Tochter noch packt und sie dann mit ihrem Mann zum Haupteinga­ng bringt. „Uns ist gesagt worden, dass wir den Abschied schnell und uns nicht so schwer machen

„Es muss nicht sein, dass ein Baby dauernd schreit vor Schmerzen“sagt Radiologe Markus Uhl vom St. Josefs-Krankenhau­s in Freiburg. Er schätzt das Schmerzemp­finden von Babys und Kleinkinde­rn im Vergleich zu Erwachsene­n als anders ein.

sollen. Wir sollten Joy sagen, dass sie in den Urlaub geht“, erzählt sie. Verkraften kann sie es nicht. „Ich habe dann soviel geweint, dass ich zusammenge­brochen bin“, berichtet sie später.

Hinweise auf eine Aufweichun­g und Verformung der Knochen beziehungs­weise eine vermindert­e Knochendic­hte oder auf Glasknoche­n hat das Krankenhau­s nicht ausmachen können. „Das Röntgen ist aber nur eine Möglichkei­t, Glasknoche­n zu diagnostiz­ieren“, sagt Marina Jenkins. Sie und ihr Mann wollen eine Erklärung für die Verletzung­en finden. Deshalb soll ihr Kind noch bei einem Genetiker untersucht werden, um die Knochenstr­uktur testen zu lassen. Osteopath Sven Kempf aus Villingen-Schwenning­en, bei dem Joy Jenkins in Behandlung ist, hat nach Aussage der Eltern diagnostiz­iert, dass das Kind „ein spastische­s Gangbild“habe. Dadurch sei das Sturzrisik­o von Joy, die die Eltern als „experiment­ierfreudig­es Mädchen“bezeichnen, noch einmal erhöht. „Joy möchte Dinge machen, die außerhalb ihrer altersents­prechenden Möglichkei­ten liegen“, erklärt Marina Jenkins.

Ein Hinweis, dass die Eltern die

Wahrheit sagen und Joys Knochen möglicherw­eise leicht brechen, gibt es seit Mittwoch, 6. November. Marina Jenkins schreibt an die Redaktion, dass sich Joy bei der Pflegemutt­er beim „sicheren Abstieg auf dem Bauch vom Sofa“den Knöchel angebroche­n habe. Joy sei anschließe­nd beruhigt worden, habe ein Zäpfchen bekommen und anschließe­nd die Nacht durchgesch­lafen. Am Donnerstag sei der Fuß geröntgt und der Bruch festgestel­lt worden. „Sie trägt nun für drei Wochen einen Gips. Dann gibt es eine Nachkontro­lle“, sagt Marina Jenkins, die die Gesundheit­svorsorge genauso wie das Antragsund Aufenthalt­bestimmung­srecht an das Jugendamt abgeben musste.

Einmal pro Woche sehen Marina und Darren momentan ihre Tochter für zwei Stunden wieder. Bei Feiertagen kann es allerdings auch vorkommen, dass neun bis zwölf Tage zwischen den Treffen liegen. Unbeschwer­t sind die Umgänge nicht. Seit Joy bei einer Pflegemutt­er lebt, wirkt sie für ihre Mutter ungepflegt. „Die Haare waren seit Tagen nicht gewaschen und es war bereits getrocknet­e Creme im Intimberei­ch“, erinnert sie sich an die letzten Wiedersehe­n. Obwohl

sie der Pflegemutt­er „eine Gebrauchsa­nweisung“geschriebe­n hat, wie die Ernährungs­gewohnheit­en von Joy sind, habe diese sich im Beisein von Marina Jenkins beklagt, dass sie Probleme habe, dass das Kind überhaupt etwas esse.

Eine Einschätzu­ng, die die leibliche Mutter nur teilweise teilt. Bei den ersten beiden Treffen habe sie jeweils Vesper mitgebrach­t. „Joy saß 45 Minuten neben uns und hat gegessen. Das macht sie sonst nicht.“Besonders verärgert sind die beiden, dass eine Verbrennun­g an der Hand ihrer Tochter nicht sofort, sondern erst zwei Tage später medizinisc­h versorgt worden sei. „Die Pflegemutt­er hat von einer Brandblase am Finger gesprochen“, sagen Marina und Darren Jenkins. Ein Foto zeigt eine offene Hautstelle auf der Handfläche.

Ob und wann Joy Jenkins zu ihren Eltern zurückkehr­t, ist genauso offen wie die Zukunft des noch ungeborene­n Kindes. Zwar berichtet Marina Jenkins aus einem Gespräch mit dem Jugendamt, dass die Behörde versucht, sie und ihr zweites Kind in einem Mutter-Kind-Heim unterzubri­ngen. „Es scheint in Baden-Württember­g schwierig zu sein, eine passende Einrichtun­g zu finden“, meint sie. Eine zeitnahe Rückkehr von Joy in die Familie scheint momentan nicht möglich. Auch das Anfang Oktober unterbreit­ete Angebot, Joy könne bei den Großeltern mütterlich­erseits leben, werde mehrfach in der Woche zur Kontrolle dem Kinderarzt vorgestell­t und könne ohne Vorankündi­gung vom Jugendamt besucht werden, fand keinen positiven Anklang. „Wir haben schon jetzt das Gefühl, dass unsere Eltern-KindBindun­g leidet“, sagt die Mutter.

Eigentlich, sagt Marina Jenkins zum Abschluss, hätten sie und ihr Mann vier Kinder gewollt. „Wenn ich jetzt nicht schwanger wäre, würde Joy sicher ein Einzelkind bleiben“, meint sie und steht auf. Zusammen mit ihrem Mann geht sie in eine ungeklärte Zukunft.

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FOTO: PRIVAT Ein Bild aus glückliche­n Tagen: Seit dem 16. September sind Marina und Darren Jenkins von ihrer eineinhalb­jährigen Tochter Joy getrennt.

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