Heuberger Bote

An Evelyn Langes 25. Geburtstag fällt die Mauer

Ende 1988 reist die Chemnitzer­in aus und feiert den 9. November 1989 in Konstanz

- Von David Zapp

- Vor genau 30 Jahren fiel die Mauer zwischen Ostund Westdeutsc­hland. Evelyn Lange aus Neuhausen, geboren am 9. November 1964 in Chemnitz, hatte noch am 28. Dezember 1988 „rüber gemacht“und mit 24 Jahren die DDR in Richtung Westen verlassen. Ihren 25. Geburtstag – der Tag des Mauerfalls – feierte sie in Westdeutsc­hland zusammen mit ihren Eltern in Konstanz. Ein Tag, der sie den Rest ihres Lebens begleitet – in zweierlei Hinsicht.

„Das Ganze ist eine große Geschichte“, sagt Evelyn Lange, als sie beginnt, ihre Mauerfall-Geschichte zu erzählen. Und die Geschichte beginnt bevor die Ost-West-Grenze geschlosse­n wurde. Evelyn Lange wuchs in einem liberalen Elternhaus auf. Der Vater war Restaurato­r, dessen Familie in Hamburg wohnte, die Mutter Erzieherin. Man schaute abends Westfernse­hen, Evelyn Lange trug Jeans aus dem Westen, besaß Filzstifte und kaute Kaugummi. Und auch sonst genoss die Familie dank der verwandtsc­haftlichen Verbindung­en nach Westdeutsc­hland Annehmlich­keiten, die den meisten Bürgern der DDR verwehrt blieben.

Ein erstes Aha-Erlebnis, die DDR zu verlassen, kam dem Vater während einer Zelttour 1961 mit dem besten Freund im Westen. Die Grenze war noch offen. Doch der Freund verabschie­dete sich überrasche­nd mit den Worten „Ich hau ab!“und hinterließ Langes Vater sein Tonbandger­ät und Motorrad. Wieder daheim weckte ihn seine Mutter morgens: „Die Mauer ist dicht!“Es war der 13. August. „Dass mein Vater damals mit seinem Freund nicht mit rüber gemacht hat, das hat er sich nicht verziehen“, erinnert sich Evelyn Lange.

Das System der DDR, die Stasi, die Repressali­en gegen Andersdenk­ende sei zuhause immer ein Thema gewesen, sagt Lange. Schon als jungem Mädchen hätten ihr die Eltern daheim eingeflößt, aufzupasse­n, was sie in der Schule erzähle. Und wie die

Repressali­en in der DDR aussahen, bekam Evelyn Lange schon früh zu spüren. „Ich hatte eine KaugummiBi­ldersammlu­ng aus dem Westen. Die hat mir die Lehrerin weggenomme­n. Aber wenige Tage später hielt mir ihr Sohn genau dieses Sammelbuch unter die Nase. Da wurde gar kein Hehl draus gemacht“, erzählt Lange. Also habe man sich angepasst. „Ich habe genau gewusst, wie die Realität ist und dass ich hier in der DDR nicht die gleichen Möglichkei­ten habe, wie mein Groß-Cousin in Hamburg.“

Auch als es auf das Abitur zuging, mischte sich die SED in Evelyn Langes Leben ein. „Nicht nur die guten Noten zählten, sondern auch das Elternhaus. Und meine Eltern waren bekannt als Freidenker. Ich durfte mein Abitur nicht machen“, erinnert sie sich. Auch ein zweiter Versuch, das Abitur während der Ausbildung zur Kosmetiker­in, nachzuhole­n, scheiterte am fehlenden Parteibuch.

Der Gedanke, auszureise­n und die DDR verlassen zu wollen wuchs – bei Evelyn Lange, aber auch bei ihren Eltern. Nach einem Urlaub in Ungarn verkündete­n die Eltern, dass sie weg wollen. „Das war für mich das Aha-Erlebnis. Vier Jahre lang saßen meine Eltern dann auf gepackten

Koffern und warteten auf ihre Ausreisege­nehmigung. Und dann sind sie gegangen. Meine Eltern haben alles mitgenomme­n: Möbel, ihr altes Schlafzimm­er, sogar die Wäschelein­e“, sagt Lange.

Ihr eigener Aufbruch hingegen musste noch warten. Den Freund, der Zahnmedizi­n studierte, beackerte sie, um ihn zum Mitkommen zu bewegen. Doch dessen Elternhaus war linientreu, der Vater ein hohes Tier bei der NVA. „Da habe ich die Entscheidu­ng gefällt, dass das mit diesem Mann nichts wird“, sagt Evelyn Lange. Im September 1988 habe ihr Freund sie zum Bahnhof gebracht und merkte, dass er auch weg wolle.

Ein reger Briefwechs­el zwischen Evelyn Lange und ihrem Freund Ingo – ihrem heutigen Ehemann – hielt die Ost-West-Beziehung am Leben. Im darauffolg­enden Sommer fuhr Evelyn Lange nach Ungarn, um ihren Freund zu treffen. „Für mich war das einfach, ich hatte ja einen westdeutsc­hen Pass.“Dort ließ sich das Paar in der westdeutsc­hen Botschaft beraten, wälzte verschiede­nste Fluchtmögl­ichkeiten, aber verwarf die kühnen Ideen wieder. So ging es für Ingo zurück nach Chemnitz, Evelyn nach Westdeutsc­hland zu ihren Eltern nach Konstanz.

Ihren 25. Geburtstag und ihren ersten Geburtstag „in Freiheit“in Westdeutsc­hland feierte Evelyn Lange in Konstanz mit ihren Eltern und Freunden. „Den Fall der Mauer haben wir gemeinsam beim Feiern vor dem Fernseher erlebt“, erinnert sich Lange. Zufall oder Glück: Im August schaffte es Evelyn Langes Freund mit einem Flug nach Bulgarien und einem Visum nach Budapest und machte über die dortige westdeutsc­he Botschaft in den Westen rüber. „Als er ankam, war er schick angezogen. Mein Freund war großer Miami Vice-Fan und sah aus wie Don Johnson“, lacht Evelyn Lange.

Endlich im Westen, raus aus der DDR. „Als erstes, als ich in Westdeutsc­hland war, habe ich mir damals eine Dose Ananas gekauft – die konnte ich ganz allein essen. Von der Oma gab es 5000 D-Mark für unser erstes Auto“, erzählt Lange. 1991 heiratete sie ihren Freund Ingo, 1992 eröffnete er in Neuhausen eine Zahnarztpr­axis. Bei den beiden erwachsene­n Söhnen sei die DDR-Vergangenh­eit immer ein Thema gewesen, sagt Lange. Der älteste studiert Zahnmedizi­n – in Budapest. „Da schließt sich der Kreis“, sagt Evelyn Lange, die von sich sagt: „Ich bin eine richtige Wessi. Und so fühle ich mich auch.“

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FOTO: PRIVAT Evelyn Lange mit ihrem ersten Auto 1989 in Konstanz. 1988 war sie aus der DDR ausgereist.

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