Heuberger Bote

Orgelbauer wittern westliche Propaganda

In der Zeit, in der vier Männer aus Dresden die Orgel Maria-Königin-Kirche bauten, fiel 1989 die Mauer

- Von Linda Seiss

WURMLINGEN/SEITINGEN-OBERFLACHT/TUTTLINGEN - Werden dieser Tage Bilder und Erlebnisse des Mauerfalls am 9. November 1989 ausgestrah­lt, verfolgt Kunibert Wilhelm diese mit großem Interesse. Das liegt zum einen daran, dass er das politische Geschehen schon immer aufmerksam beobachtet hat. Zum anderen verbrachte er mit seiner Familie und vier Orgelbauer­n aus Dresden vor exakt 30 Jahren aber einen Abend der besonderen Art.

„Das ist eine tolle Geschichte“, sagt der heute 69-jährige Kunibert Wilhelm. „Das war so überrasche­nd, das konnte man nicht erwarten.“Seine Geschichte beginnt im Jahr 1989. Wilhelm ist damals 39 Jahre alt und als Gesamtkirc­henpfleger der katholisch­en Kirchengem­einde in Tuttlingen tätig. Wie er berichtet, leitet er zu diesem Zeitpunkt die Kirchenges­chäfte im verwaltung­stechnisch­en Bereich.

Die Maria-Königin-Kirche in Tuttlingen habe damals zwar eine Orgel gehabt, diese sei aber zu klein gewesen, sagt er. Und dann kommt Guntram Burger ins Spiel. „Er war die große Triebfeder dafür, dass eine andere, größere Orgel angeschaff­t wurde. Er hat nach Orgelbauer­n Ausschau gehalten“, erinnert sich Wilhelm. Es wurden ein Orgelbauve­rein gegründet und Spenden bei den katholisch­en Familien gesammelt, berichtet Burger.

68 Jahre lang hat Burger die Organisten­dienste in den beiden katholisch­en Kirchen übernommen, blickt er zurück und sagt: „Ich habe den Entwurf für die Registrier­ung und das Aussehen der Orgel gemacht und Verbindung mit dem Orgelbauer Jehmlich aus Dresden aufgenomme­n.“

Burger, der im kommenden Jahr seinen 90. Geburtstag feiert, spricht von einer interessan­ten Zeit. „Ich war mehrfach in Dresden und habe die Verhältnis­se der DDR mitbekomme­n. Da wir einen Auftrag gebracht haben, sind wir in dem Fall bevorzugt behandelt worden. Auch in Lokalen, in die wir sonst gar nie reingekomm­en wären“, erinnert sich der Organist, der in Seitingen-Oberflacht wohnt.

Im Herbst 1989 fiel dann der Startschus­s für den Bau der Orgel. „Vier Orgelbauer waren über mehrere Wochen da“, sagt Kunibert Wilhelm. Sie lebten in der Kirchenwoh­nung in Tuttlingen. Am 9. November 1989 hat die Familie mit ihren drei Kindern die vier Männer zu sich nach Hause nach Wurmlingen zum Abendessen eingeladen. „Wir saßen gemeinsam im Esszimmer.“Im Fernsehen seien die Nachrichte­n gelaufen. „Da wurde vom Mauerfall berichtet. Das war für uns surreal“, erklärt er.

Die Berichters­tattung über das Ereignis habe den ganzen Abend ausgefüllt. Die erste Reaktion, die die vier Orgelbauer gezeigt hätten: Sie äußerten die Vermutung, dass es sich bei dieser Nachricht um westliche Propaganda handelt, berichtet Wilhelm von seiner Erinnerung.

Auch Burger kann sich noch an die Zeit des Mauerfalls erinnern. Am 10. November sei er morgens in die Kirche gekommen und habe sich mit den Leuten vor Ort darüber unterhalte­n, was passiert ist. „Das war für die Leute ein großes Erlebnis, das aus der Ferne mitzubekom­men“, berichtet er.

„Das war Zufall, dass die Orgel gerade in der Zeit gebaut wurde, als die Mauer fiel“, sagt Burger. „Das konnte keiner ahnen“, stimmt Wilhelm zu. Und er verrät, dass ihn dieses Erlebnis geprägt hat. „Das berührt mich heute noch sehr, wenn ich Bilder sehe, wie der Schlagbaum gehoben wurde, und die Menschen in Berlin über die Grenze gehen konnten“, sagt Wilhelm. Wenn er also dieser Tage die Berichte zum Mauerfall sieht, wird er immer auch an das Abendessen vor 30 Jahren mit den vier Orgelbauer­n aus Dresden denken.

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FOTO: KEVIN RUDNER Die Orgel in der Maria Königin Kirche in Tuttlingen ist zur Zeit des Mauerfalls gebaut worden.
 ?? FOTOS: LINDA SEISS/KEVIN RUDNER ?? An gleicher Stelle, aber mit anderer Sitzgarnit­ur, haben Kunibert Wilhelm, seine Familie und die vier Orgelbauer aus Dresden den Fall der Mauer am 9. November 1989 erlebt. Die Orgel in der Maria-Königin-Kirche in Tuttlingen ist zur Zeit des Mauerfalls gebaut worden.
FOTOS: LINDA SEISS/KEVIN RUDNER An gleicher Stelle, aber mit anderer Sitzgarnit­ur, haben Kunibert Wilhelm, seine Familie und die vier Orgelbauer aus Dresden den Fall der Mauer am 9. November 1989 erlebt. Die Orgel in der Maria-Königin-Kirche in Tuttlingen ist zur Zeit des Mauerfalls gebaut worden.

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