Das Ende war sein Anfang
Als vor 30 Jahren die DDR zusammenbrach, nutzten Michael Succow und seine Mitstreiter das Zeitfenster für einen Coup – ein Mammut-Naturschutzprojekt, das der DDR-Ministerrat in letzter Sekunde verabschiedete
Man kann sich kaum einen glücklicheren Menschen vorstellen als Michael Succow, wenn er am Rande des Dünen-Kiefernwaldes Lanken steht, der, unter Naturschutz, „sich selbst leben darf“, wie Succow das nennt. Er steht da, die sanft wogenden Wellen des Greifswalder Boddens im Blick, umringt von rund 20 Studenten aus ganz Deutschland, die lauschen, was er zu erzählen weiß über den Seeadler. Über die Veränderung der Vegetation seit jener Zeit vor 300 Jahren, da der heutige Nordosten Deutschlands noch schwedisch war. Über die alten Bäume, von denen er fast ehrfürchtig spricht: „Jeder Baum hier ist ein Individuum. Jeder hat seine eigene Entfaltung. Also, ein Wald, der eine unheimliche Schönheit ...“
Nicht immer führt er seine Sätze zu Ende. Succow, Moorexperte von Weltrang, einer der bedeutendsten Umweltschützer Deutschlands, emeritierter Professor für Geobotanik und Landschaftsökologie, springt von Thema zu Thema, hängt ja alles mit allem zusammen. Manchmal, wenn Michael Succow merkt, wie viel er jetzt schon wieder geredet hat, wie sehr es aus ihm heraussprudelt, schiebt er ein „So.“ein, wie einen Stöpsel. „So“, sagt er dann. „Ich darf nicht zu viel erzählen.“Und dann erzählt er meistens weiter.
Ist die Zeit allerdings mal wirklich knapp, weiß Succow sie zu nutzen. Wie damals, zur Wendezeit 1989/90, als die DDR aufhörte zu existieren. Der letzte Beschluss auf der letzten Sitzung der letzten Regierung des Arbeiter- und Bauernstaates lautete: 4882 Quadratkilometer werden unter Naturschutz gestellt – rund 4,5 Prozent des Staatsgebietes. Fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate, drei Naturparks. Das „DDR-Nationalparkprogramm“war ein Coup, den man sich in Babelsberg oder Hollywood nicht besser hätte ausdenken können, so unwahrscheinlich. „Ein Jahrhundertwerk, geschaffen in weniger als einem Jahr“, so Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbundes Deutschland. Der damalige BRD-Umweltminister Klaus Töpfer nannte es das „Tafelsilber der deutschen Einheit“.
Michael Succow, 78, gilt als Vater des Nationalparkprogramms. Der Biologe, dem wegen seiner Kritik am DDR-System trotz Promotion eine Universitätskarriere verbaut war, machte zur Wendezeit eine Blitzkarriere: Ende November 1989 wurde Succow zu einer Gesprächsrunde eingeladen, die im DDRFernsehen übertragen wurde – live, unzensiert. Er sprach offen über Umweltschäden, die es offiziell in der DDR gar nicht gab. Anfang Dezember rief ihn Umweltminister Hans Reichelt an und bat ihn, sein Stellvertreter zu werden. „Ich habe an das System geglaubt, wurde missbraucht“, sagte ihm Reichel. „Sie sind glaubwürdig. Sie müssen es besser machen. Sie haben alle Freiheiten.“
So wurde Succow, der Outlaw, auf der Zielgeraden der DDR kurzzeitig Vize-Umweltminister. Er ernannte seine Weggefährten Hans Dieter Knapp und Lebrecht Jeschke, ebenfalls vom System Verstoßene, zu Hauptverantwortlichen für die geplanten Nationalparks und das „Grüne Band“, zu dem der Todesstreifen entlang der deutsch-deutschen Grenze werden sollte. Klaus Töpfer kommandierte seinen Juristen Arnulf MüllerHelmbrecht aus dem Bonner Umweltministerium nach Ostberlin ab, um Succows Truppe beim Gesetzeschmieden zu helfen.
Das Nationalparkprogramm war ein bürokratisches Mammutprojekt. Nüchtern betrachtet: unmöglich, in der Kürze der Zeit. Aber es war keine nüchterne Zeit. Die Menschen hatten die Mauer zum Einsturz gebracht und auch in den Behörden waren Mauern gefallen. „Die Wendezeit“, erinnert sich Succow, „war eine kurze Phase, in der die Menschen beseelt waren. In der auf einmal sehr, sehr viel möglich war.“
Am 12. September 1990, dem Tag, als in Ost-Berlin der DDR-Ministerrat ein letztes Mal tagte, wurde das Nationalparkprogramm verabschiedet. Die Schutzgebietsverordnungen wurden Teil des Einigungsvertrages und traten am 3. Oktober 1990 in Kraft. 1997 wurde Michael Succow der „Alternative Nobelpreis“verliehen. Es wäre ein schönes Ende der Geschichte. Es wurde der Anfang des nächsten Kapitels.
Mit dem Preisgeld legte Succow den Grundstein für die MichaelSuccow-Stiftung, die sich seit 1999 für das Naturerbe in Deutschland einsetzt sowie für Umwelt- und Klimaschutzprojekte etwa in Aserbaidschan und China, Iran und Äthiopien. Wie man scheinbar Unmögliches in Staaten mit scheinbar unmöglichen politischen Rahmenbedingungen schafft – wer wüsste das schließlich besser als Michael Succow?
Dieses Jahr, zum 20-jährigen Jubiläum der Succow-Stiftung, verkündete sie ihre Zwischenbilanz: 100 Projekte in 15 Ländern, 20 ausgewiesene Schutzgebiete, 20 000 Hektar wiedervernässte Moorflächen, 1400 Hektar eigener Flächenbesitz, darunter auch das Naturschutzgebiet Lanken am Greifswalder Bodden. Für eine kleine Stiftung sind das erstaunliche Erfolge. Denn trotz inzwischen rund 30 Mitarbeitern verfügt sie über keinen großen Kapitalstock, was sie, wie Succow sagt, zu einer „Bettelstiftung“macht.
Wirklich betteln muss Michael Succow allerdings nicht. Wie schon zur Wendezeit kann er sich auf ein großes Netzwerk an Freunden und Unterstützern verlassen, zu dem etwa Klaus Töpfer oder Michael Otto („Otto-Versand“) zählen. Oder Dieter Mennekes, Unternehmer aus dem Sauerland, der, inspiriert von Succows Einsatz für naturbelassene Natur, erklärte, seinen 340 Hektar großen „Heiligenborner Wald“fortan Wildnis werden zu lassen.
Mennekes ist es auch, der das fünftägige „Succow-Seminar“sponsert, das die rund 20 Studenten – Umweltwissenschaftler, Landschaftsökologen, Land- und Forstwirtschaftler – an den Greifswalder Bodden geführt hat. Eine Exkursion zum Thema „Mensch und Natur in Partnerschaft“, für die Professoren Kurzzeit-Stipendiaten vorschlagen konnten. „Succownauten“hat Mennekes
die Teilnehmer getauft. Ein Ehrentitel, in dem die Hoffnung mitschwingt, dass auch sie sich in Succows Geist für eine enkeltaugliche Welt einsetzen. Succow sagt, er wolle etwas vermitteln, das an den Universitäten oft zu kurz komme: „eine Erdverbundenheit, eine
Ehrfurcht – ja, ich will mal sagen, eine Liebesbeziehung zur Natur.“
Könnte kitschig klingen, wäre es so dahingesagt. Aber Succow füllt die Worte mit Leben, lebt diese Beziehung vor. Wenn man ihn im Elisenhain bei Greifswald stehen sieht, der schon seit Anfang des 19.
Jahrhunderts wieder „sich selbst leben darf “, wenn man seinen mäandernden Gedanken lauscht, bis er sich selbst mit einem „So, ich darf jetzt nicht zu viel erzählen“vergeblich zu bremsen versucht, wenn er da steht, Kopf im Nacken, und an den alten Eichen- und RotbuchenRiesen ergriffen emporblickt, würde es einen nicht wundern, wenn er im nächsten Moment an einen der Riesenbäume herantreten und ihn umarmen würde. Macht er dann doch nicht. Machen drei seiner Succownauten, die, Hand in Hand, gerade so um den mächtigen Stamm herumreichen. Succow lächelt. Scheint doch ganz gut zu klappen, mit der Liebesbeziehung zur Natur.
Nicht nur Erdverbundenheit, auch Meerverbundenheit legen die Succownauten an den Tag. Als Michael Succow seine Ausführungen in den Dünen am Greifswalder Bodden beendet hat, werfen sie ihre Kleider in den Sand und rennen für ein Erfrischungsbad in die Ostsee. Einen Augenblick später trottet auch der Naturschutz-Lehrmeister ins Wasser.
Selbst während der Badepause sprudeln die Gedanken weiter aus ihm heraus. Und so hält er dort, im seichten Ostseewasser, die Succownauten im Halbkreis um sich versammelt, eine kleine Nacktvorlesung. Naturnäher geht nicht. Er wirkt ein wenig poseidonesk – weißer Rauschebart, Wellen bis zum Bauch –, als er den Arm hebt und Antoine de Saint-Exupéry zitiert: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Ein Satz, wie eine Kurzbeschreibung des Succow-Seminars. Ein Satz auch, der für Michael Succows Lebensleistung stehen könnte: das Schaffen und Schützen von Glücksorten, in Deutschland und auf der ganzen Welt.
’’ Die Wendezeit war eine kurze Phase, in der die Menschen beseelt waren. In der auf einmal sehr, sehr viel möglich war.
Michael Succow