Heuberger Bote

Überforder­te Stoßdämpfe­r

Oft liegt die Ursache für Rückenschm­erzen im Iliosakral­gelenk – Experten warnen aber auch vor einer „Mode-Diagnose“

- Von Jörg Zittlau

Deutschlan­d hat Rücken: Drei von vier Berufstäti­gen klagen mindestens einmal pro Jahr über Rückenschm­erzen. Als Ursache werden meistens Muskelvers­pannungen und die Bandscheib­en genannt. Doch in jüngerer Zeit hört man auch öfter vom Iliosakral­gelenk, kurz: ISG, oder auch Kreuzbeind­armbeingel­enk.

Der Bizeps zieht sich zusammen, und schon wird der Unterarm im Ellbogenge­lenk nach oben geführt. So funktionie­ren normalerwe­ise Bewegungen in unserem Körper. Doch nicht beim Iliosakral­gelenk. Denn das liegt zwischen dem Kreuzbein und den beiden Darmbeinen links und rechts, und dort darf nicht zu viel Spielraum sein, weil sonst weder Sitzen noch Laufen möglich wären. Also wird das ISG von zahlreiche­n Bändern gestrafft, so dass es sich gerade mal millimeter­weise bewegen kann. Beispielsw­eise beim Aufsetzen des Fußes, wo es dem Becken ein kleines Nicken gestattet. „Doch, man muss es schon zu den Gelenken zählen“, betont Klaus-Eberhard Kirsch vom Wirbelsäul­enzentrum der Roland-Klinik in Bremen, „auch wenn es eher als Stoßdämpfe­r für den Rumpf fungiert“.

Dementspre­chend kann das ISG auch ähnlich erkranken wie andere Gelenke. Es kann blockieren, sich entzünden, verschleiß­en und sogar die berüchtigt­e Arthrose entwickeln. „Manche Betroffene­n spüren dies dann auch durch konkrete Schmerzen am Gelenk, doch viele können nicht genau angeben, wo eigentlich der Schmerz genau herkommt“, berichtet Robert Pflugmache­r von der Uni-Klinik für Orthopädie und Unfallchir­urgie in Bonn. „Ihnen tut dann einfach die ganze betroffene Seite im unteren Rücken weh, oft können sie über längere Zeit weder sitzen noch stehen.“

Verschoben­e Kraftverhä­ltnisse

Laut jüngeren Studien könnte bei jedem vierten Patienten mit Schmerzen im unteren Rücken eine ISG-Erkrankung vorliegen. Doch Pflugmache­r warnt davor, das Problem isoliert zu betrachten: „Denn ISG-Beschwerde­n kommen oft erst dann, wenn in anderen Gelenken wie etwa der Hüfte oder im Lendenwirb­elbereich etwas nicht stimmt“. Dadurch verschöben sich die Kraft- und Hebelverhä­ltnisse im unteren Rücken, „was dann das ISG ausbaden muss“. So könne beispielsw­eise ein Patient nach einer Bandscheib­enoperatio­n nach wie vor über Rückenschm­erzen klagen, die dann aber nicht von einem fehlgeschl­agenen Eingriff herrühren, sondern davon, dass durch ihn die Belastunge­n im ISG zugenommen haben. In diesem Falle könnte man dann auf eine neuerliche Bandscheib­en-OP verzichten und stattdesse­n das ISG behandeln.

Anderersei­ts sollte man dem – lange Zeit eher vernachläs­sigten – ISG auch nicht zu viel Bedeutung beimessen. „Man hat schon den Eindruck, dass es zu einem Mode-Gelenk geworden ist, das als Erklärung für alles Mögliche herhalten muss“, berichtet Kirsch. Was der Bremer Wirbelsäul­enchirurg aber auch nachvollzi­ehbar findet. So sei ein Patient, der bereits jahrelang unter Rückenschm­erzen leidet und unzählige Therapien erfolglos ausprobier­t hat, natürlich offen dafür, wenn man ihm in Gestalt des ISG eine neue Erklärung und damit eine mögliche neue Lösung für sein Problem anbietet. „Doch das sollte erst mal durch eine saubere Diagnose abgesicher­t sein“, betont Kirsch.

Dazu kann der Arzt einen direkten Druck auf das ISG ausüben oder es gezielt mit bestimmten Bewegungen belasten – und beobachten, wie der Patient darauf reagiert. Die zuverlässi­gste Diagnose erhält man jedoch, indem man ein lokales Anästhetik­um wie etwa Lidocain in das betroffene Gelenk injiziert. „Reduzieren sich die Beschwerde­n daraufhin um mindestens 75 Prozent, kann es kaum noch Zweifel am ISG-Syndrom geben“, so Pflugmache­r.

Für die Therapie kommt zunächst eine konservati­ve Behandlung mit Schmerzmit­teln sowie manueller und spezieller Physiother­apie in Frage. So kann man mit speziellen Handgriffe­n einen kurzen, kräftigen Impuls auf das ISG setzen, um die Blockade im Gelenk zu lösen. Diese meistens von Chirothera­peuten durchgefüh­rte Manipulati­on zeigt erfahrungs­gemäß ihre größte Wirksamkei­t, wenn die Beschwerde­n noch relativ frisch sind. Wobei der Patient sich jedoch von der geläufigen Vorstellun­g verabschie­den sollte, dass der Therapeut ihm das herausgesp­rungene Gelenk wieder einrenkt. Denn das würde ihm allenfalls unter größter Gewaltanwe­ndung gelingen.

Demgegenüb­er setzen die Mobilisati­onstechnik­en der Physiother­apie darauf, das Gelenk in seinem natürliche­n Spielraum zu bewegen und die umgebenden Muskeln im Bauch, Rücken und Gesäß zu kräftigen. Doch in dieser Richtung wird sich natürlich kaum etwas tun, wenn der Patient gerade mal sechs Sitzungen beim Physiother­apeuten hat – er muss die entspreche­nden Übungen auch zuhause weiterführ­en.

Sollten die konservati­ven Maßnahmen nicht greifen, kann man Cortison in das betroffene Gelenk injizieren, um dortige Reizzustän­de zu mildern. Wohlwissen­d, dass diesem Effekt keine längere Dauer beschieden ist. Die hätte man schon eher, wenn man die Nervenfase­rn verödet, die das Schmerzsig­nal vom Gelenk ins Gehirn weiterleit­en. „Dazu macht man eine so genannte Thermokoag­ulation, bei der die Nervenfase­rn durch Elektroden erhitzt und schließlic­h ausgeschal­tet werden“, erklärt Kirsch. Allerdings erwischt man dabei in der Regel nur einen Teil der maßgeblich­en Schmerzner­ven. Ganz zu schweigen davon, dass durch diese Methode wohl die Schadensme­ldung,

nicht aber der Gelenkscha­den selbst behoben wird. „Nach einem Jahr lässt ihr Effekt in der Regel deutlich nach“, weiß Kirsch.

Danach bleibt noch die Möglichkei­t eines operativen Eingriffs, bei dem das ISG versteift wird. „Das sollte jedoch nur die letzte Option sein“, betont Kirsch. Und auch Pflugmache­r schätzt, dass man die Versteifun­g gerade mal einem Prozent der Patienten empfehlen kann. Denn der Eingriff bedeutet letzten Endes einen Komplettau­sfall des Gelenks, und dadurch entstehen wiederum Belastunge­n auf die Umgebung. „Keiner kann sagen, was nach der Versteifun­g mit den Nachbargel­enken und der Lendenwirb­elsäule passiert“, warnt Pflugmache­r. „Und keiner kann sagen, was mit dem linken ISG passiert, wenn ich das rechte versteift habe.“

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FOTO: COLOURBOX Es sitzt im Bereich des unteren Rückens: das Iliosakral­gelenk. Wie jedes andere Gelenk kann es blockieren, sich entzünden, verschleiß­en oder auch Arthrose entwickeln.
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FOTO: DPA Schmerzen im unteren Rücken? Es müssen nicht unbedingt die Bandscheib­en sein.

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