Überforderte Stoßdämpfer
Oft liegt die Ursache für Rückenschmerzen im Iliosakralgelenk – Experten warnen aber auch vor einer „Mode-Diagnose“
Deutschland hat Rücken: Drei von vier Berufstätigen klagen mindestens einmal pro Jahr über Rückenschmerzen. Als Ursache werden meistens Muskelverspannungen und die Bandscheiben genannt. Doch in jüngerer Zeit hört man auch öfter vom Iliosakralgelenk, kurz: ISG, oder auch Kreuzbeindarmbeingelenk.
Der Bizeps zieht sich zusammen, und schon wird der Unterarm im Ellbogengelenk nach oben geführt. So funktionieren normalerweise Bewegungen in unserem Körper. Doch nicht beim Iliosakralgelenk. Denn das liegt zwischen dem Kreuzbein und den beiden Darmbeinen links und rechts, und dort darf nicht zu viel Spielraum sein, weil sonst weder Sitzen noch Laufen möglich wären. Also wird das ISG von zahlreichen Bändern gestrafft, so dass es sich gerade mal millimeterweise bewegen kann. Beispielsweise beim Aufsetzen des Fußes, wo es dem Becken ein kleines Nicken gestattet. „Doch, man muss es schon zu den Gelenken zählen“, betont Klaus-Eberhard Kirsch vom Wirbelsäulenzentrum der Roland-Klinik in Bremen, „auch wenn es eher als Stoßdämpfer für den Rumpf fungiert“.
Dementsprechend kann das ISG auch ähnlich erkranken wie andere Gelenke. Es kann blockieren, sich entzünden, verschleißen und sogar die berüchtigte Arthrose entwickeln. „Manche Betroffenen spüren dies dann auch durch konkrete Schmerzen am Gelenk, doch viele können nicht genau angeben, wo eigentlich der Schmerz genau herkommt“, berichtet Robert Pflugmacher von der Uni-Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie in Bonn. „Ihnen tut dann einfach die ganze betroffene Seite im unteren Rücken weh, oft können sie über längere Zeit weder sitzen noch stehen.“
Verschobene Kraftverhältnisse
Laut jüngeren Studien könnte bei jedem vierten Patienten mit Schmerzen im unteren Rücken eine ISG-Erkrankung vorliegen. Doch Pflugmacher warnt davor, das Problem isoliert zu betrachten: „Denn ISG-Beschwerden kommen oft erst dann, wenn in anderen Gelenken wie etwa der Hüfte oder im Lendenwirbelbereich etwas nicht stimmt“. Dadurch verschöben sich die Kraft- und Hebelverhältnisse im unteren Rücken, „was dann das ISG ausbaden muss“. So könne beispielsweise ein Patient nach einer Bandscheibenoperation nach wie vor über Rückenschmerzen klagen, die dann aber nicht von einem fehlgeschlagenen Eingriff herrühren, sondern davon, dass durch ihn die Belastungen im ISG zugenommen haben. In diesem Falle könnte man dann auf eine neuerliche Bandscheiben-OP verzichten und stattdessen das ISG behandeln.
Andererseits sollte man dem – lange Zeit eher vernachlässigten – ISG auch nicht zu viel Bedeutung beimessen. „Man hat schon den Eindruck, dass es zu einem Mode-Gelenk geworden ist, das als Erklärung für alles Mögliche herhalten muss“, berichtet Kirsch. Was der Bremer Wirbelsäulenchirurg aber auch nachvollziehbar findet. So sei ein Patient, der bereits jahrelang unter Rückenschmerzen leidet und unzählige Therapien erfolglos ausprobiert hat, natürlich offen dafür, wenn man ihm in Gestalt des ISG eine neue Erklärung und damit eine mögliche neue Lösung für sein Problem anbietet. „Doch das sollte erst mal durch eine saubere Diagnose abgesichert sein“, betont Kirsch.
Dazu kann der Arzt einen direkten Druck auf das ISG ausüben oder es gezielt mit bestimmten Bewegungen belasten – und beobachten, wie der Patient darauf reagiert. Die zuverlässigste Diagnose erhält man jedoch, indem man ein lokales Anästhetikum wie etwa Lidocain in das betroffene Gelenk injiziert. „Reduzieren sich die Beschwerden daraufhin um mindestens 75 Prozent, kann es kaum noch Zweifel am ISG-Syndrom geben“, so Pflugmacher.
Für die Therapie kommt zunächst eine konservative Behandlung mit Schmerzmitteln sowie manueller und spezieller Physiotherapie in Frage. So kann man mit speziellen Handgriffen einen kurzen, kräftigen Impuls auf das ISG setzen, um die Blockade im Gelenk zu lösen. Diese meistens von Chirotherapeuten durchgeführte Manipulation zeigt erfahrungsgemäß ihre größte Wirksamkeit, wenn die Beschwerden noch relativ frisch sind. Wobei der Patient sich jedoch von der geläufigen Vorstellung verabschieden sollte, dass der Therapeut ihm das herausgesprungene Gelenk wieder einrenkt. Denn das würde ihm allenfalls unter größter Gewaltanwendung gelingen.
Demgegenüber setzen die Mobilisationstechniken der Physiotherapie darauf, das Gelenk in seinem natürlichen Spielraum zu bewegen und die umgebenden Muskeln im Bauch, Rücken und Gesäß zu kräftigen. Doch in dieser Richtung wird sich natürlich kaum etwas tun, wenn der Patient gerade mal sechs Sitzungen beim Physiotherapeuten hat – er muss die entsprechenden Übungen auch zuhause weiterführen.
Sollten die konservativen Maßnahmen nicht greifen, kann man Cortison in das betroffene Gelenk injizieren, um dortige Reizzustände zu mildern. Wohlwissend, dass diesem Effekt keine längere Dauer beschieden ist. Die hätte man schon eher, wenn man die Nervenfasern verödet, die das Schmerzsignal vom Gelenk ins Gehirn weiterleiten. „Dazu macht man eine so genannte Thermokoagulation, bei der die Nervenfasern durch Elektroden erhitzt und schließlich ausgeschaltet werden“, erklärt Kirsch. Allerdings erwischt man dabei in der Regel nur einen Teil der maßgeblichen Schmerznerven. Ganz zu schweigen davon, dass durch diese Methode wohl die Schadensmeldung,
nicht aber der Gelenkschaden selbst behoben wird. „Nach einem Jahr lässt ihr Effekt in der Regel deutlich nach“, weiß Kirsch.
Danach bleibt noch die Möglichkeit eines operativen Eingriffs, bei dem das ISG versteift wird. „Das sollte jedoch nur die letzte Option sein“, betont Kirsch. Und auch Pflugmacher schätzt, dass man die Versteifung gerade mal einem Prozent der Patienten empfehlen kann. Denn der Eingriff bedeutet letzten Endes einen Komplettausfall des Gelenks, und dadurch entstehen wiederum Belastungen auf die Umgebung. „Keiner kann sagen, was nach der Versteifung mit den Nachbargelenken und der Lendenwirbelsäule passiert“, warnt Pflugmacher. „Und keiner kann sagen, was mit dem linken ISG passiert, wenn ich das rechte versteift habe.“