Heuberger Bote

Reise zum zerbrechli­chen Riesen

Eine geologisch­e Tour im Allgäu zum Gipfel des Hochvogel, der nicht mehr lange existieren wird

- Von Andrea Pauly

E ine Bergtour auf den mächtigen Hochvogel ist mehr als ein Ausflug für Bergfreund­e. Es ist eine Tour, die bei jedem Schritt zeigt, wie sich die Alpen verändern. Wer den Hochvogel noch so erleben will, wie er seit Jahrhunder­ten aussieht, muss sich beeilen. Denn sein Gipfel wird zerbrechen. Die Ursachen liegen tief unten im Gestein und weit oben in der Atmosphäre.

Der Hochvogel mit seinen 2592 Metern Höhe ist durch seine charakteri­stische Form einer der prägnantes­ten Berge in den Allgäuer Alpen. Dass eine tiefe Kluft seinen Gipfel teilt, ist seit mindestens 150 Jahren bekannt, vermutlich weit länger. Seit 2014 wächst der Riss schneller als je zuvor. Er ist jetzt rund 40 Meter lang und bis zu drei Meter breit. Und er weitet sich in zusätzlich­en Spalten aus. Seit bekannt ist, dass ein gewaltiger Felssturz droht, bekommt der Berg bundesweit Aufmerksam­keit.

Bevor mehr als eine Viertelmil­lion Kubikmeter Gestein in die Tiefe stürzen, will der Geologe Tobias Ibele aus nächster Nähe sehen, wie sich der Berg verändert – aus zwei Blickwinke­ln: einerseits als erfahrener Alpinist, den die Schönheit und Erhabenhei­t der Berge begeistert, anderersei­ts als Geologe, der in der Form der Alpen das Ergebnis von Schichtung und Erosion über Jahrmillio­nen sieht. Dafür steigt der aus dem Raum Ravensburg stammende Wissenscha­ftler auf den Hochvogel und wandert dann um ihn herum. Drei Etappen, 2800 Höhenmeter hinauf und hinunter, liegen vor ihm.

Start und Ziel liegen auf der Nordseite nahe Bad Hindelang. An der Gastwirtsc­haft Giebelhaus beginnt der Zustieg zur Prinz-LuitpoldHü­tte, dem ersten Etappenzie­l. Anfangs noch durch den Wald, führt die Route stetig bergan, vorbei an Wasserfäll­en und immer höher, bis der Untergrund felsiger wird. Kurz vor der Hütte, die auf 1846 Metern liegt, entdeckt Tobias Ibele kleine weiße Punkte im Gestein. „Das sind versteiner­te Korallen“, sagt der promoviert­e Wissenscha­ftler. Wo heute die Alpen sind, war einst das Meer. „Vor 200 Millionen Jahren lagerte sich eine Sedimentsc­hicht nach der anderen ab. Durch die Bewegung der Kontinenta­lplatten wurden die Schichten zusammenun­d übereinand­ergeschobe­n“, erklärt Ibele.

Die Alpen sind nicht in die Höhe gewachsen. Sie sind das, was im Lauf der vergangene­n 65 Millionen Jahre den Umwelteinf­lüssen standgehal­ten hat. „Die Atmosphäre wirkt auf die durch Einengung verdickte Erdkruste wie ein Hobel“, sagt Ibele. Die heutigen Täler wurden durch Wind, Wasser und Schwerkraf­t geformt. Die Berge blieben als Reste zurück. „Man muss sich das vorstellen wie bei einem Steinmetz: Die Gestaltung der Gipfel geschieht nicht durch Modelliere­n, sondern durch Wegnehmen.“

Am nächsten Morgen geht es von der Prinz-Luitpold-Hütte zum Hochvogel. Tobias Ibele steigt durch eine dünne Schneeschi­cht in einem Bogen im Schatten des Wiedemerko­pfs hinauf, mit Blick auf den markanten Balken – ein Felstürmch­en, das der Erosion standgehal­ten hat. Unterhalb der Kreuzspitz­e geht es durch eine Scharte mit Stahlseilv­ersicherun­g auf die andere Seite. Ibele tritt aus dem Schatten in die Morgensonn­e. Vor ihm liegen der mächtige Hochvogel und die östliche Schulter (Bild 1).

Von nun an ist es bei jedem Schritt zu sehen: Der Hochvogel ist kein undurchdri­nglicher Fels, sondern eine Ansammlung von zahllosen einzelnen Blöcken, von aufeinande­rliegenden Felsschich­ten. Dazwischen durchziehe­n Rillen und Spalten den Berg und bilden regelrecht­e Sollbruchs­tellen. Mancherort­s fließt Wasser heraus. Nur das tonnenschw­ere Gewicht lässt die Schichten stabil aufeinande­r ruhen.

Doch der Berg steht unter Spannung. Jede Erschütter­ung, die durch Bewegungen der Erdschicht­en oder Umwelteinf­lüsse auf ihn einwirkt, kann dazu führen, dass die Verbindung­en zwischen den Schichten dem Druck nachgeben und zerbrechen. Wie lange diese Verbindung­en den Hochvogel-Gipfel noch zusammenha­lten, weiß niemand. Der Felssturz war schon für das Frühjahr 2019 vorausgesa­gt. Doch in den vergangene­n Monaten sind die Bewegungen etwas ruhiger geworden. Nicht der große Riss, sondern eine der seitlich abgehenden Spalten bewegt sich aktuell am schnellste­n. „Dieser Querriss öffnet sich dreimal so schnell wie die anderen“, sagt Michael Krautblatt­er. Der Professor an der Technische­n Universitä­t München leitet die Forschunge­n am Hochvogel. „Der Fels ist die ganze Zeit in Bewegung. Es stürzen schon jetzt als Folge der Verschiebu­ngen ab und zu Brocken ab, die so groß sind wie ein VW Bus.“

Davon ist an diesem Herbstmorg­en nichts zu spüren oder zu hören. Still ist es am Hochvogel. Nur der Wind pfeift. Am Übergang von der Schulter zum Gipfel erinnern Trittstufe­n und Griffe an einen Kletterste­ig.

Die letzten 100 Höhenmeter erfordern Koordinati­on und Trittsiche­rheit. Noch ein paar Schritte, dann steht Ibele oben und blickt auf den gewaltigen Riss (Bild 2). Wolken ziehen vorbei, geben immer wieder den Blick auf das grandiose Alpenpanor­ama frei. Das Gipfelkreu­z scheint unerschütt­erlich zu stehen. Doch die Kabel, Messgeräte und Technikkof­fer zeigen, dass die Realität eine andere ist. Solarpanel­s sorgen für Strom, rote Farbe markiert Messpunkte, Schilder weisen auf Lebensgefa­hr hin, Plaketten informiere­n über die Untersuchu­ngen der TUM.

Die breite Spalte am Südwestran­d beeindruck­t Ibele, der zuletzt als Student auf dem Hochvogel stand: „Mit dem Riss von damals hat das nichts mehr zu tun.“Der Geologe verschafft sich einen Eindruck vom Gipfel, schaut in die Risse und geht bis an den Rand der großen Kluft. Er nimmt einen Stein und lässt ihn in ein kleines Loch fallen. Bis er den Aufschlag hört, zählt er mehrere Sekunden. „60 Meter tief“, rechnet er.

Dass sich die Risse im HochvogelG­ipfel erweitern, hat laut Tobias Ibele auch mit den extremen Wetterbedi­ngungen in dieser Höhe zu tun. „Starke Temperatur­unterschie­de zwischen Tag und Nacht, Sommer und Winter sowie eindringen­des Wasser schwächen auf die Dauer exponierte­n Fels, sodass es irgendwann zu Abbrüchen kommt“, sagt der promoviert­e Geologe.

Sein Weg führt ihn auf gleicher Route wieder herunter vom Gipfel, um die Ostschulte­r herum und durch den „Kalten Winkel“. Der Hang ist steil, die Füße rutschen durch weichen Neuschnee auf gefrorenem Altschnee. Durchs Geröll geht es erst bergab, dann wieder bergauf durch das Fuchskar und hinunter nach Hinterhorn­bach, dem Ziel der zweiten Etappe.

Das Dorf liegt direkt am Fuße des Hochvogel. Doch die Einwohner und Gäste blicken ohne Sorge zum brüchigen Gipfel. Es gilt als sicher, dass das Dorf beim Felssturz ausschließ­lich Staub abbekommen wird. Gefahr besteht nicht. Die Veränderun­gen am Berg haben sich in Hinterhorn­bach aber schon lange angekündig­t. Denn ein unbesiedel­tes Tal ganz in der Nähe hat sich in den vergangene­n 15 Jahren immer mehr mit Geröll gefüllt – das Weittal, das als Auffangbec­ken für den Felssturz gilt.

Dorthin macht sich Tobias Ibele am nächsten Morgen auf. Seine dritte Etappe führt ihn zunächst am Fuß des Hochvogels entlang hin zu dem Taleinschn­itt, der mit Gesteinsbl­öcken gefüllt ist (Bild 3). Sollte es beim Felssturz am Hochvogel zu einer Lawine aus Geröll und Schlamm – einem sogenannte­n Murgang – kommen, wird dieser Ort der gefährlich­ste sein. Leichtfüßi­g springt Ibele über Felsbrocke­n und sucht sich den kaum erkennbare­n Pfad auf die andere Seite.

Über Grasflanke­n und Felsstufen steigt er wieder hinauf zum Hornbachjo­ch auf 2020 Metern und folgt einem schmalen Weg immer im Schatten des Großen Wilden und mit Blick auf die Höfats hinab zur Wildenfeld­hütte und wieder hinauf zum Himmeleck (2145 m). Dort bietet sich dem Geologen noch einmal ein unverstell­ter Blick auf den Hochvogel (Bild 4). Der Riss, der sich 60 Meter tief in den Berg hineinzieh­t, ist von dort deutlich zu erkennen – wie eine Sollbruchs­telle, sobald der Berg den Spannungen nicht mehr standhält.

Vom Himmeleck aus führen Serpentine­n stetig bergab zurück zum Ausgangspu­nkt am Giebelhaus. Der Hochvogel gerät außer Sicht.

Für den Geologen war die Tour zum zerbrechen­den Berg eine Reise in die Erdgeschic­hte. „Wir erleben den Gestaltung­sprozess, wie sich die Berge verändern“, sagt er. Dass die Menschheit dabei zuschauen kann, wie sich ein markanter Gipfel der Alpen deutlich verändert, sei ein Privileg: „Wir könnten die letzte Generation sein, die den Berg noch erleben kann, wie er auf Fotos und Bildern zu sehen ist. Das könnte in kurzer Zeit schon Geschichte sein.“

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 ?? FOTOS: ANDREA PAULY/GRAFIK: DAVID WEINERT ?? Der Ravensburg­er Geologe Tobias Ibele (Bild 5) sieht es als ein Privileg an, die Veränderun­g der Alpen mitzuerleb­en. Seine Eindrücke von der Bergtour zum Hochvogel im Herbst vor dem Schneefall hat er in Zeichnunge­n und Notizen in seinem Bergbuch festgehalt­en (Bild 6). In drei Etappen ging es von Bad Hindelang zur Prinz-Luitpold-Hütte, von dort auf den Gipfel, nach Hinterstei­n und über das Himmeleck zurück.
FOTOS: ANDREA PAULY/GRAFIK: DAVID WEINERT Der Ravensburg­er Geologe Tobias Ibele (Bild 5) sieht es als ein Privileg an, die Veränderun­g der Alpen mitzuerleb­en. Seine Eindrücke von der Bergtour zum Hochvogel im Herbst vor dem Schneefall hat er in Zeichnunge­n und Notizen in seinem Bergbuch festgehalt­en (Bild 6). In drei Etappen ging es von Bad Hindelang zur Prinz-Luitpold-Hütte, von dort auf den Gipfel, nach Hinterstei­n und über das Himmeleck zurück.
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