Reise zum zerbrechlichen Riesen
Eine geologische Tour im Allgäu zum Gipfel des Hochvogel, der nicht mehr lange existieren wird
E ine Bergtour auf den mächtigen Hochvogel ist mehr als ein Ausflug für Bergfreunde. Es ist eine Tour, die bei jedem Schritt zeigt, wie sich die Alpen verändern. Wer den Hochvogel noch so erleben will, wie er seit Jahrhunderten aussieht, muss sich beeilen. Denn sein Gipfel wird zerbrechen. Die Ursachen liegen tief unten im Gestein und weit oben in der Atmosphäre.
Der Hochvogel mit seinen 2592 Metern Höhe ist durch seine charakteristische Form einer der prägnantesten Berge in den Allgäuer Alpen. Dass eine tiefe Kluft seinen Gipfel teilt, ist seit mindestens 150 Jahren bekannt, vermutlich weit länger. Seit 2014 wächst der Riss schneller als je zuvor. Er ist jetzt rund 40 Meter lang und bis zu drei Meter breit. Und er weitet sich in zusätzlichen Spalten aus. Seit bekannt ist, dass ein gewaltiger Felssturz droht, bekommt der Berg bundesweit Aufmerksamkeit.
Bevor mehr als eine Viertelmillion Kubikmeter Gestein in die Tiefe stürzen, will der Geologe Tobias Ibele aus nächster Nähe sehen, wie sich der Berg verändert – aus zwei Blickwinkeln: einerseits als erfahrener Alpinist, den die Schönheit und Erhabenheit der Berge begeistert, andererseits als Geologe, der in der Form der Alpen das Ergebnis von Schichtung und Erosion über Jahrmillionen sieht. Dafür steigt der aus dem Raum Ravensburg stammende Wissenschaftler auf den Hochvogel und wandert dann um ihn herum. Drei Etappen, 2800 Höhenmeter hinauf und hinunter, liegen vor ihm.
Start und Ziel liegen auf der Nordseite nahe Bad Hindelang. An der Gastwirtschaft Giebelhaus beginnt der Zustieg zur Prinz-LuitpoldHütte, dem ersten Etappenziel. Anfangs noch durch den Wald, führt die Route stetig bergan, vorbei an Wasserfällen und immer höher, bis der Untergrund felsiger wird. Kurz vor der Hütte, die auf 1846 Metern liegt, entdeckt Tobias Ibele kleine weiße Punkte im Gestein. „Das sind versteinerte Korallen“, sagt der promovierte Wissenschaftler. Wo heute die Alpen sind, war einst das Meer. „Vor 200 Millionen Jahren lagerte sich eine Sedimentschicht nach der anderen ab. Durch die Bewegung der Kontinentalplatten wurden die Schichten zusammenund übereinandergeschoben“, erklärt Ibele.
Die Alpen sind nicht in die Höhe gewachsen. Sie sind das, was im Lauf der vergangenen 65 Millionen Jahre den Umwelteinflüssen standgehalten hat. „Die Atmosphäre wirkt auf die durch Einengung verdickte Erdkruste wie ein Hobel“, sagt Ibele. Die heutigen Täler wurden durch Wind, Wasser und Schwerkraft geformt. Die Berge blieben als Reste zurück. „Man muss sich das vorstellen wie bei einem Steinmetz: Die Gestaltung der Gipfel geschieht nicht durch Modellieren, sondern durch Wegnehmen.“
Am nächsten Morgen geht es von der Prinz-Luitpold-Hütte zum Hochvogel. Tobias Ibele steigt durch eine dünne Schneeschicht in einem Bogen im Schatten des Wiedemerkopfs hinauf, mit Blick auf den markanten Balken – ein Felstürmchen, das der Erosion standgehalten hat. Unterhalb der Kreuzspitze geht es durch eine Scharte mit Stahlseilversicherung auf die andere Seite. Ibele tritt aus dem Schatten in die Morgensonne. Vor ihm liegen der mächtige Hochvogel und die östliche Schulter (Bild 1).
Von nun an ist es bei jedem Schritt zu sehen: Der Hochvogel ist kein undurchdringlicher Fels, sondern eine Ansammlung von zahllosen einzelnen Blöcken, von aufeinanderliegenden Felsschichten. Dazwischen durchziehen Rillen und Spalten den Berg und bilden regelrechte Sollbruchstellen. Mancherorts fließt Wasser heraus. Nur das tonnenschwere Gewicht lässt die Schichten stabil aufeinander ruhen.
Doch der Berg steht unter Spannung. Jede Erschütterung, die durch Bewegungen der Erdschichten oder Umwelteinflüsse auf ihn einwirkt, kann dazu führen, dass die Verbindungen zwischen den Schichten dem Druck nachgeben und zerbrechen. Wie lange diese Verbindungen den Hochvogel-Gipfel noch zusammenhalten, weiß niemand. Der Felssturz war schon für das Frühjahr 2019 vorausgesagt. Doch in den vergangenen Monaten sind die Bewegungen etwas ruhiger geworden. Nicht der große Riss, sondern eine der seitlich abgehenden Spalten bewegt sich aktuell am schnellsten. „Dieser Querriss öffnet sich dreimal so schnell wie die anderen“, sagt Michael Krautblatter. Der Professor an der Technischen Universität München leitet die Forschungen am Hochvogel. „Der Fels ist die ganze Zeit in Bewegung. Es stürzen schon jetzt als Folge der Verschiebungen ab und zu Brocken ab, die so groß sind wie ein VW Bus.“
Davon ist an diesem Herbstmorgen nichts zu spüren oder zu hören. Still ist es am Hochvogel. Nur der Wind pfeift. Am Übergang von der Schulter zum Gipfel erinnern Trittstufen und Griffe an einen Klettersteig.
Die letzten 100 Höhenmeter erfordern Koordination und Trittsicherheit. Noch ein paar Schritte, dann steht Ibele oben und blickt auf den gewaltigen Riss (Bild 2). Wolken ziehen vorbei, geben immer wieder den Blick auf das grandiose Alpenpanorama frei. Das Gipfelkreuz scheint unerschütterlich zu stehen. Doch die Kabel, Messgeräte und Technikkoffer zeigen, dass die Realität eine andere ist. Solarpanels sorgen für Strom, rote Farbe markiert Messpunkte, Schilder weisen auf Lebensgefahr hin, Plaketten informieren über die Untersuchungen der TUM.
Die breite Spalte am Südwestrand beeindruckt Ibele, der zuletzt als Student auf dem Hochvogel stand: „Mit dem Riss von damals hat das nichts mehr zu tun.“Der Geologe verschafft sich einen Eindruck vom Gipfel, schaut in die Risse und geht bis an den Rand der großen Kluft. Er nimmt einen Stein und lässt ihn in ein kleines Loch fallen. Bis er den Aufschlag hört, zählt er mehrere Sekunden. „60 Meter tief“, rechnet er.
Dass sich die Risse im HochvogelGipfel erweitern, hat laut Tobias Ibele auch mit den extremen Wetterbedingungen in dieser Höhe zu tun. „Starke Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, Sommer und Winter sowie eindringendes Wasser schwächen auf die Dauer exponierten Fels, sodass es irgendwann zu Abbrüchen kommt“, sagt der promovierte Geologe.
Sein Weg führt ihn auf gleicher Route wieder herunter vom Gipfel, um die Ostschulter herum und durch den „Kalten Winkel“. Der Hang ist steil, die Füße rutschen durch weichen Neuschnee auf gefrorenem Altschnee. Durchs Geröll geht es erst bergab, dann wieder bergauf durch das Fuchskar und hinunter nach Hinterhornbach, dem Ziel der zweiten Etappe.
Das Dorf liegt direkt am Fuße des Hochvogel. Doch die Einwohner und Gäste blicken ohne Sorge zum brüchigen Gipfel. Es gilt als sicher, dass das Dorf beim Felssturz ausschließlich Staub abbekommen wird. Gefahr besteht nicht. Die Veränderungen am Berg haben sich in Hinterhornbach aber schon lange angekündigt. Denn ein unbesiedeltes Tal ganz in der Nähe hat sich in den vergangenen 15 Jahren immer mehr mit Geröll gefüllt – das Weittal, das als Auffangbecken für den Felssturz gilt.
Dorthin macht sich Tobias Ibele am nächsten Morgen auf. Seine dritte Etappe führt ihn zunächst am Fuß des Hochvogels entlang hin zu dem Taleinschnitt, der mit Gesteinsblöcken gefüllt ist (Bild 3). Sollte es beim Felssturz am Hochvogel zu einer Lawine aus Geröll und Schlamm – einem sogenannten Murgang – kommen, wird dieser Ort der gefährlichste sein. Leichtfüßig springt Ibele über Felsbrocken und sucht sich den kaum erkennbaren Pfad auf die andere Seite.
Über Grasflanken und Felsstufen steigt er wieder hinauf zum Hornbachjoch auf 2020 Metern und folgt einem schmalen Weg immer im Schatten des Großen Wilden und mit Blick auf die Höfats hinab zur Wildenfeldhütte und wieder hinauf zum Himmeleck (2145 m). Dort bietet sich dem Geologen noch einmal ein unverstellter Blick auf den Hochvogel (Bild 4). Der Riss, der sich 60 Meter tief in den Berg hineinzieht, ist von dort deutlich zu erkennen – wie eine Sollbruchstelle, sobald der Berg den Spannungen nicht mehr standhält.
Vom Himmeleck aus führen Serpentinen stetig bergab zurück zum Ausgangspunkt am Giebelhaus. Der Hochvogel gerät außer Sicht.
Für den Geologen war die Tour zum zerbrechenden Berg eine Reise in die Erdgeschichte. „Wir erleben den Gestaltungsprozess, wie sich die Berge verändern“, sagt er. Dass die Menschheit dabei zuschauen kann, wie sich ein markanter Gipfel der Alpen deutlich verändert, sei ein Privileg: „Wir könnten die letzte Generation sein, die den Berg noch erleben kann, wie er auf Fotos und Bildern zu sehen ist. Das könnte in kurzer Zeit schon Geschichte sein.“