Heuberger Bote

75 Minuten Verzauberu­ng

Beim Jazztalk in der „Linse“zeigt sich Rolf Kühn besorgt über die Neofaschis­ten

- Von Bernd Guido Weber

- Der Anfang ist schwer gewesen, unmenschli­ch schwer. Das erfahren die vielen Besucher beim Jazztalk in der „Linse“Weingarten, im Rahmen des Landesjazz­festivals. Der Autor und Kulturjour­nalist Wolfram Frommlet moderiert bestens vorbereite­t, Rolf Kühn ist hellwach, feinsinnig, humorvoll. Noblesse ohne Attitüde.

Da hatte ein junger Klarinetti­st 1500 Dollar zusammenge­spart, durch Auftritte in einem Nachtclub am Timmendorf­er Strand, um in New York sein Glück zu versuchen. Mit einer gehörigen Portion Selbstbewu­sstsein, das braucht man auch 1956. Er spaziert durch die pulsierend­en Straßen, alles ganz anders als im zerstörten Berlin der Nachkriegs­zeit. Trifft an einer Ecke zufällig Friedrich Gulda, den genialen Pianisten, man kennt sich aus dem Berliner Jazzkeller „Badewanne“. Gulda tritt am nächsten Tag in der „Carnegie Hall“auf. Er stellt den Kontakt zu John Hammond her, dem einflussre­ichsten Talentscou­t, Produzent und Bandmanage­r des 20. Jahrhunder­ts. Hammond hat Bob Dylan entdeckt, Billy Holiday, Aretha Franklin, und viele mehr. Der Rest ist Musikgesch­ichte. Die erste eigene LP Rolf Kühns, Auftritte mit Caterina Valente, in den USA ein Star. Jahrelang on tour mit der Benny-Goodman-Band. Nach der Rückkehr in die Bundesrepu­blik ein stilbilden­der Jazzer, einer der wichtigste­n der Szene. Klingt wie ein modernes Märchen.

Die Kühn-Familie hat in Leipzig gelebt. Der Vater ist Artist, tritt in den besten Varietes auf. Die Mutter Jüdin. Die Nazis drängen auf Scheidung, der Vater verweigert dies. Der Sohn damit „Halbjude“, so der schrecklic­he Nazi-Terminus. Mit der „Reichspogr­omnacht“am 9. November 1938 eskaliert die Judenverfo­lgung. Der Vater bekommt Berufsverb­ot. Rolf Kühn, damals neun Jahre, muss sofort seine Schule verlassen, auch das Konservato­rium bleibt dem Hochbegabt­en verschloss­en. Die Eltern engagieren Privatlehr­er, fördern Rolf nach Kräften. Eine böse Zeit. Was er empfinde, wenn er von dem SynagogenA­nschlag in Halle höre, und von dem AfD-Mann Höcke, den man, gerichtlic­h festgestel­lt, als Faschisten bezeichnen darf ? „Das Angstgefüh­l von 1938 bis 1945 schleicht sich wieder ein. Das kann man nicht ausblenden. Zwei Schwestern meiner Mutter sind grausam im KZ ermordet worden. Da kommen schlimme Erinnerung­en wieder hoch“.

Die Kühns überleben den Krieg, 1944 kommt Rolfs Bruder Joachim auf die Welt. Rolf Kühn wird mit 17 Jahren Saxophonis­t und Klarinetti­st beim neu gegründete­n Sender Leipzig des Mitteldeut­schen Rundfunk. Die Berufung ins berühmte Gewandhaus­orchester schlägt er aus, geht in den Westen. Sein Herz schlägt für den Jazz, so erzählt er, nachdem er Benny Goodman auf Platte gehört hat. In Westberlin ist die Szene lebendiger als in der bleieren sowjetisch­en Besatzungs­zone, es gibt Jazzkeller, USBands. Kühn spielt im RIAS-Tanzorches­ter, wird ausgezeich­net. Seine Liebe zur Klarinette ist ungebroche­n, wird immer intensiver.

Wie Kühns Karriere nach dem Gastspiel in den USA hierzuland­e weiterging, wird bei dieser Jazz-Matinee weniger thematisie­rt. Es sind schon 50 Minuten vorbei, keine davon langweilig. Jedenfalls kehrt auch Rolfs Bruder Joachim der DDR den Rücken, bleibt beim Besuch Friedrichs Guldas in Wien. Rolf und Joachim Kühn treten oft zusammen auf, spielen Platten ein. Heute lebt Joachim Kühn auf Ibiza.

Jetzt aber ist’s Zeit für eine musikalisc­he Kostprobe. Wolfram Frommlet stellt die Band „Yellow & Blue“ausführlic­h vor, Lisa Wulff am Bass (29), den Percussion­isten und Drummer Diego Pinera (1981 geboren) und den Tastenmann Frank Chastenier (Jahrgang 1966). Ein DreiGenera­tionen-Projekt, vier Musiker, die sich gegenseiti­g schätzen und verstehen. Rolf Kühn berührt mit seinem einzigarti­gen Ton, virtuosem Glanz, Energie. Auch die Band läuft zu großer Form auf. Wer geglaubt hat, der große, alte Rolf Kühn bringt halt ein paar Stücke als nachträgli­che Untermalun­g seiner bewegten Lebensgesc­hichte, der wird überrascht. 75 Minuten Verzauberu­ng. Ein Erlebnis.

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FOTO: HANS BÜRKLE Hellwach: der 90-jährige Rolf Kühn in Weingarten.

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