Mehr Lebensraum für die Hirsche
Der baden-württembergische Jagdverband möchte dem Rotwild mehr Raum im Land geben Bisher dürfen sich die Tiere nur in streng begrenzten Gebieten ausbreiten
(jau) - Baden-Württembergs Landesjagdverband will dem Hirsch mehr Raum zubilligen. Er hat eine entsprechende Initiative gestartet. Bisher ist das Rotwild auf vier Prozent der Landesfläche beschränkt. Dies betrachtet der Jagdverband als nicht mehr zeitgemäß. Die Landesregierung tendiert zwar auch in diese Richtung. Weil Rotwild aber Waldschäden anrichten kann, zögert sie. Bevor es ein Lockern der Gebietsgrenzen geben könne, sei das Entwerfen eines Plans für das Rotwild-Management nötig.
- Unbestreitbar: Ein Rothirsch kann höchst beeindruckend sein – majestätisch sogar, wenn er mit voller Geweih-Pracht während der herbstlichen Brunft auf eine Lichtung tritt. Seine Gattung ist die größte noch in Deutschland vorkommende Wildart – und im Südwesten in jüngerer Zeit immer wieder für emotional aufgeheizte Debatten gut. Wie gegenwärtig. Dabei ist nur wenigen Leuten der Anblick eines Hirsches in freier Wildbahn vergönnt. In BadenWürttemberg hat dies einen speziellen Hintergrund: Rotwild darf nur innerhalb von fünf eng umgrenzten Landstrichen vorkommen: in Teilen des Nord- und Südschwarzwalds, in der Adelegg, im Schönbuch sowie Odenwald. Die festgelegten Gebiete umfassen gerade mal vier Prozent der Landesfläche. Eine staatliche Verordnung von 1958 will es so.
Seinerzeit galt kühl: Hirsche stören das Bewirtschaften des Waldes – fertig, aus. Inzwischen ist nicht nur die Sichtweise differenzierter, sondern ebenso die Debatte ums Dasein des Rotwildes hitziger. Bemerkenswerterweise liegen die Kontrahenten mit ihren Standpunkten noch nicht einmal weit auseinander. Es geht dabei um bis 8000 Stück Rotwild – Tendenz steigend. Dies lässt sich aus jüngst amtlich präsentierten Zahlen berechnen. Was daraus geschlossen werden kann, ist jedoch umstritten. Ein guter Bestand, wie eher die Jäger glauben? Oder zu viele Tiere? Letzteres wird etwa in Kreisen der Grünen so gesehen. Mehr Schießen tue deshalb Not. Öko-Verbände wie der Nabu schließen sich dem Standpunkt an. Sie unterstellen dem Rotwild „negative Auswirkungen auf die Artenvielfalt und die Stabilität unserer Wälder“. Ausgerechnet das Wappentier der Württemberger wird zum Schädling herabgestuft.
Indes hat der baden-württembergische Landesjagdverband eine Initiative gestartet, die gegenläufig erscheint. Sie soll dem Rotwild mehr Platz zum Leben verschaffen. Die Initialzündung für diese Aktion gab eine Online-Petition der Deutschen Wildtierstiftung. Bei ihr geht es ebenso um Freiheit für den Hirsch. Zu den Forderungen passt, dass im nächsten Jahr eine Richtlinie ausläuft, die als Ergänzung der Rotwildverordnung von 1958 dient. Mit anderen Worten: Dann wäre der Zeitpunkt für eine gelockerte Hirsch-Regel günstig. Zumindest glaubt dies der Landesjagdverband. Er hält den bestehenden Zustand für „einen Anachronismus“, wie Hauptgeschäftsführer Erhard Jauch betont.
Er verweist auf den Generalwildwegeplan. Dieser ist vor vier Jahren im neuen Landesjagdgesetz sowie im Landesnaturschutzgesetz verankert worden. Wildtiere sollen frei zwischen den verschiedenen Orten ihres Vorkommens hin- und herziehen können – also beispielsweise vom Allgäu nach Oberschwaben oder an die obere Donau und retour. Der Hintergrund: So kann sich der Genpool der Populationen verlässlich erneuern. Die Bestände gehen nicht an Inzucht zugrunde. Im Zusammenhang mit dem Rotwild existiert aber ein Verordnungsproblem: Sobald ein Vertreter dieser Art sein Haupt über die Grenzen der Hirsch-Gebiete streckt, hat demnach die Büchse zu knallen. Der Abschuss während der üblichen Jagdzeit ist verpflichtend – es sei denn, ein Kronen-Hirsch kommt des Weges, ein ganz kapitaler wie seltener Vertreter seiner Art. Er darf weiterziehen, um eventuell doch noch irgendwo Gene auffrischen zu können.
„Wir wollen, dass das Abschussgebot allgemein für das Rotwild auf diesen Wanderrouten wegfällt“, sagt Jäger-Hauptgeschäftsführer Jauch. Man könne nicht auf der einen Seite solche Korridore schützen und auf der anderen Seite die Tiere töten. „Das passt nicht zusammen“, unterstreicht Jauch die Argumentation seines Verbandes. Letztlich sollen die Hirsche ihres Weges gehen dürfen. Wo ihnen ein schönes Plätzchen taugt, könnten sie sich auch ansiedeln. In diesem Zusammenhang wird des Öfteren das Biosphären-Gebiet auf der Schwäbischen Alb genannt: jene eher dünn besiedelte Gegend, die den ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen im Zentrum hat.
Wie auch in einigen oberschwäbischen Landstrichen existierten dort bis weit ins 19. Jahrhundert bedeutende Rotwildbestände. Als aber der aus Münsingen stammende heutige liberale Europaabgeordnete Andreas Glück in seiner Zeit als Landtagsparlamentarier 2012 einen entsprechenden Vorschlag machte, gab es eine harsche Abfuhr. Nun bringt der Jagdverband die Alb nochmals in die Diskussion. Eigentlich spielt die Örtlichkeit aber bei der darauffolgenden Reaktion keine Rolle. Ganz egal wie abgelegen, den Rotwild-Skeptikern passt erst einmal keine Ecke. Ein Teil aus diesem Lager sieht dabei den Zeitgeist
auf seiner Seite. Das Stichwort heißt Klimawandel. Dieser tut dem Wald, wie er gegenwärtig besteht, nicht unbedingt gut. Trockenheit und Hitze setzen der Fichte zu, dem altbekannten Brotbaum der Forstwirtschaft.
Ein Umbau des Waldes soll diesen in die Zukunft hinüberretten. Rotwild schält aber nun mal Baumrinde ab. Es verbeißt junge Gewächse. Hirsche schädigen mit ihren Geweihen Bäumchen. Rehe knabbern noch zusätzlich an Knospen des wachsenden Zukunftswaldes herum. Und weil der Nabu solche Wildbestände für viel zu hoch hält, liegt seine Folgerung nahe: „In dieser Situation, ohne funktionierende Managementkonzepte, eine Aufhebung der Rotwildgebiete zu fordern, ist höchst kontraproduktiv“, teilt Nabu-Sprecherin Claudia Wild mit.
Zu den Managementkonzepten wird später noch etwas zu sagen sein. Zuerst soll die Riege der Skeptiker vervollständigt werden. Die Forstkammer, Vereinigung der privaten Waldbesitzer, hält traditionell wenig von einer irgendwie gearteten Freiheit für Hirsche. Zu groß ist die Angst vor unkalkulierbaren Schäden in den Wirtschaftswäldern. Recht zurückhaltend äußert sich zudem der baden-württembergische Landesbauernverband. „Die Sorge vor Verbiss- und Schälschäden ist latent vorhanden“, berichtet Agrarrechtsreferent Heiner Klett. Bezogen auf den Wald ist die Befürchtung klar. Klett verweist jedoch darauf, dass es gegenwärtig noch keine tiefer gehenderen Erfahrungen gebe, wie sich Rotwild auf Felder auswirke. Schließlich lägen dessen gegenwärtige Gebiete in Waldregionen.
Im Übrigen macht der Agrar-Jurist auf eine gewisse Unlogik beim Behandeln großer Wildtiere aufmerksam. So sagt er, für Raubtiere wie den Wolf würde alles getan, wenn sie im Land auftauchten. Hirsche seien hingegen Grenzen gesetzt. „Das passt nicht zusammen“, meint Klett. Bei seiner Argumentation geht es ihm darum, allgemein bei Hirsch wie Wolf „gegensteuern zu können“– also bei einer Häufung der Schäden auch die Möglichkeit für den Einsatz der Büchse zu haben. Landesregierung und Ökoverbände sprechen dann gerne von Wildtiermanagement. Es kann vielfältig sein und wesentlich mehr als Kugeln umfassen. Beim Hirsch gehört unter anderem das Einrichten von Ruhezonen ohne lärmende Wanderer dazu. Wird ein solches Tier nicht herumgescheucht, knabbert es weniger an Bäumen. Fütterungspläne für winterliche Notzeiten sollen ebenso dazu dienen, den Hunger weg vom Wald zu lenken.
Beispiele für eine Rotwildkonzeption gibt es schon – etwa im Südschwarzwald. Offenbar funktioniert es auf dessen Höhenzügen sogar. Doch dieses Rotwild-Gebiet hat für ein Management auch gute Voraussetzungen: Die Flächen sind meist im Besitz des Staatsforstes. Anders ist es im Nordschwarzwald. So wird an der entsprechenden Rotwildkonzeption erst noch gearbeitet. Eine Million Euro hat das Landwirtschaftsministerium dafür spendiert. Im Weiteren hat man es mit vielen unterschiedlichen Waldbesitzern zu tun – und damit mit divergierenden Interessen. Deshalb scheint beim Management Sand im Getriebe zu sein. Zumindest fühlen sich Waldbewirtschafter, Ökoverbände und Grüne im Glauben bestätigt, zu viele Hirsche würden herumstreifen. Der Beweis dafür seien Schäden im Forst. Dies heißt im Übrigen nicht, dass es RotwildSkeptikern ums Ausrotten der Hirsche geht. So ist für den Nabu „funktionierendes Managementkonzept“die Zauberformel. Reinhold Pix, Jagdsprecher der grünen Landtagsfraktion, hat bereits vor einigen Jahren betont, er könne sich mehr Freiheit für den Hirsch vorstellen – aber nur bei einer strikten Verwaltung dieser Tierart. Heute sagt er: „Die Beschränkungen müssen vom Grundsatz erhalten bleiben.“Solange, bis ein RotwildManagement geschaffen sei.
Peter Hauk, der zuständige Landwirtschaftsminister von der CDU, sieht dies ähnlich. Sein Ministerium schreibt: „Will man für Rotwild weitere Lebensräume öffnen, so ist dafür eine konzeptionell verbindliche und jagdrevierübergreifende Zusammenarbeit der Jäger und Grundbesitzer erforderlich.“Selbst der Landesjagdverband unterstreicht dies. Der tatsächliche Unterschied im Standpunkt liegt dann auch woanders: Die Jägervertretung will höhere Rotwildbestände als die Hirsch-Skeptiker. Zudem möchte sie das Aufweichen der Rotwildgebiete rasch – und nicht an einem fernen Tag. Forstverwaltung, Waldbesitzer, Ökoverbände, Grüne und Bauern signalisieren hingegen, dass sie es mit der Freiheit für den Hirsch nicht eilig haben. Er soll eben weiterhin warten.