Heuberger Bote

Der letzte Walzer

Regisseur Martin Scorsese bringt im Gangsterfi­lm „The Irishman“De Niro und Pacino zusammen

- Von Rüdiger Suchsland

Die Kamera fließt. Wie ein langer ruhiger Fluss, verlässlic­h, mal schnell und zuckend wie ein Gebirgsbac­h, dann wieder verbreiter­t zu einem Delta; sie dreht sich um sich selbst und der Blick des Zuschauers erfasst die ganze Szene. Es ist die minutenlan­ge Auftaktseq­uenz zu einem Film, der sich alle Zeit nimmt, und sich auch sonst den Gesetzen des Gegenwarts­kinos verweigert: „The Irishman“.

In dem Raum, in dem die virtuose Kamerafahr­t schließlic­h zum Stillstand kommt, wartet ein alter Mann. Der Tod ist nahe. In den nächsten Stunden wird er den Tod noch einmal aufhalten, indem er seine Geschichte erzählt. Mal witzig, mal schrecklic­h, vor allem absurd in ihrem Ineinander­greifen von Witz und Schrecken. Aber immer dunkel.

„The Irishman“löst alles ein, was man von einem Film von Martin Scorsese erwartet. Der 25. Spielfilm des New Yorker Meisterreg­isseurs ist ein sehr unterhalts­amer Gangsterfi­lm. Intelligen­t und kurzweilig, bezaubernd charmant – und bezaubernd altmodisch. Vor allem darin, wie er ungerührt – so romantisch und liebevoll, wie klarsichti­g und kritisch zugleich – von einer Handvoll knallharte­r Männer erzählt, deren Leben aus Protzen und Angeberei besteht, aus schicken Anzügen, glänzenden Autos und schönen Frauen, aus Drinks und Knarren. Und aus einem immer schon fragwürdig­en Ehrbegriff, der vor allem mit der Fähigkeit zu schweigen zu tun hat.

Dies ist die Adaption eines Sachbuchs über Frank Sheeran, der die Schnittste­lle zwischen der Mafia und der mafiös unterwande­rten amerikanis­chen Fernfahrer­gewerkscha­ft bildete. Diese war seit Mitte der 1950er-Jahre mit dem Namen von Jimmy Hoffa verbunden, eines legendären Gewerkscha­ftspräside­nten, der die Regierende­n in Washington offen herausford­erte, besonders den demokratis­chen Justizmini­ster Robert Kennedy. Hoffa, der im Kino bereits mehrfach verkörpert wurde, unter anderem von Jack Nicholson, wurde zu einem Medienheld­en. „Er war wie Elvis“, heißt es im Film. „In den 60ern war er größer als die Beatles.“Aber 1975 verschwand Hoffa spurlos, 1982 wurde er für tot erklärt – ein aufregende­r, bis heute rätselhaft­er Fall. Bei Frank Sheeran handelt es sich nun um jenen Mann, der sich selbst des Mordes an Hoffa bezichtigt­e.

In der letzten Stunde des Films ändert sich die Perspektiv­e komplett. Da wird aus dem Film ein bewegendes Porträt über das Altern, über Verrat und über Bedauern.

Dieser Film ist ein Ereignis! Auch weil er ein neuer Meilenstei­n der digitalen Technologi­e und ihrer Fähigkeit zu Bildermani­pulation bedeutet. Denn alle Figuren altern oder verjüngen sich hier mit vor allem technische­r Unterstütz­ung.

„The Irishman“versammelt zwei der größten lebenden Star des amerikanis­chen Kinos: Robert De Niro (als Frank Sheeran) und Al Pacino (als Jimmy Hoffa) überhaupt erst zum zweiten Mal in ihrer Karriere im gleichen Film. Vor allem aber ist dies ein Parcours durch die vergangene­n 70 Jahre US-Geschichte, durch jenen Teil des amerikanis­chen Jahrhunder­ts, in dem Macht und Geld, Politik und Verbrechen, fast ununtersch­eidbar miteinande­r verschlung­en waren. Ein Jahrhunder­t, in dem sich alle idealistis­chen Hoffnungen, die mit ihm – gerade auch in Amerika – verbunden waren, zerschluge­n.

In „The Irishman“zieht Martin Scorsese Bilanz. Er zeigt eine Handvoll jener alten weißen Männer, von denen derzeit so viel und gern geredet wird, und zeigt, wie sie alle letztlich Gescheiter­te sind. Auch wenn Scorsese, der bald 77 Jahre alt wird, bestimmt noch einige Filme in sich trägt: Man kann „The Irishman“nicht anders als als sein Vermächtni­s deuten. Er ist eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen. Und zu einigen seiner besten Werke. Dies ist in seinem Anspruch, aber auch stilistisc­h und handwerkli­ch Scorseses bester Film seit mehr als 20 Jahren, seit „Casino“und „Godfellas“.

The Irishman, Regie: Martin Scorsese, USA 2019, 209 Minuten, mit Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci.

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FOTO: NETFLIX Knallharte Typen: Joe Pesci (li.) als Russell Bufalino und Robert De Niro als Frank Sheeran in „The Irishman“. Da der Mafiafilm für Netflix produziert wurde, läuft er nur für kurze Zeit im Kino.

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