Die Augen laufen voran
Alexander Kosenkow war deutscher Meister über 100 Meter – nun begleitet er einen Blinden auf der Bahn
DUBAI (dpa) - Als ihm sein Verein den Vorschlag unterbreitet, muss Alexander Kosenkow erst einmal schlucken. Der Sprinter fühlt sich nach fast 20 Jahren in der erweiterten Weltspitze auch mit 41 noch fit genug, um an der Heim-EM in Berlin 2018 teilzunehmen. „Die wollte ich unbedingt mitnehmen“, sagt er. Doch der TV Wattenscheid plant schon Richtung Olympia und bietet ihm stattdessen an, Trainer und Guide bei der blinden Läuferin Katrin Müller-Rottgardt zu werden.
„Am Anfang hatte ich echte Berührungsängste“, sagt der mehrfache deutsche Meister: „Ich habe mich gefragt: Wie soll ich das machen? Ich hatte mit einer eigenen Saison geplant, und die kommen mit sowas.“Trainer wollte er immer werden. Aber ein Begleitläufer? Er überlegt, „drei bis vier Wochen“. Dann sagt er zu.
Mit Müller-Rottgardt gewinnt er 2018 bei der Para-EM – die auch in Berlin stattfindet – einen kompletten Medaillensatz. Dennoch passt es nicht. Und Kosenkow kontaktiert Marcel Böttger. „Er hat mich bei Facebook angeschrieben“, erzählt dieser: „Da habe ich erst einmal bei Wikipedia nachgelesen, wer das ist.“
Böttger ist da schon 25. Er ist nahezu blind. Das rechte Auge wurde ihm 2000 entnommen, links beträgt die Sehkraft zwei Prozent. Man munkelt, er sei ein Talent. Aber eigentlich hat er kein Interesse, das mit der Leichtathletik zu intensivieren. Doch Kosenkow ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Sprinter, also will er es versuchen. Und ist schnell kurz vor der Aufgabe. „In den ersten zwei Wochen dachte ich nur: „Ach, du Schande“, gesteht er: „Aber ich wollte mir und allen anderen beweisen, dass es mit uns funktioniert.“
Auch Kosenkow berichtet, dass „Marcel es in den ersten zwei Monaten gar nicht so recht zugelassen hat. Da haben wir nur am Vertrauen gefeilt. Erst dann kam die Technik.“Heute sind die beiden ein eingespieltes Team. „Es macht mir Riesenspaß“,
sagt Kosenkow. „Mittlerweile bin ich sehr glücklich damit“, sagt auch Böttger: „Auf der Laufstrecke ist er mein Auge. Denn inzwischen vertraue ich ihm. Aber das musste sich erst entwickeln. Es ist schwer, sich bei solchen Geschwindigkeiten auf einen zu verlassen.“
Heute sagt der 26-Jährige: „Als Guide macht er es sehr gut. Als Trainer kann er einem ganz schön auf die
Nerven gehen.“Und er meint beides als Kompliment. „Er hat Talent ohne Ende“, lobt Kosenkow. Er selbst ist mit 42 noch fit, hat eine Saison-Bestmarke von 10,56. Zusammen sind sie bei der Para-WM in Dubai, acht Monate nach Beginn ihrer Zusammenarbeit, schon bei 11,10 Sekunden angekommen.
„Ziel ist, dass er so nahe wie möglich an mich herankommt“, sagt Kosenkow: „Wir sind nur so schnell wie der langsamere von uns beiden.“Wird dies irgendwann Kosenkow sein, werden sie die Zusammenarbeit beenden müssen. „Ich werde immer langsamer, er wird immer schneller. Wenn er irgendwann schneller ist, bin ich eine Last“, sagt der Coach. Und auch Böttger weiß: „Wir werden irgendwann in die Phase kommen, wo er keine Hilfe mehr ist.“
Doch käme es so, wäre Böttger in der Welt-Spitze des Para-Sports angelangt. Und beide hätten ihr Ziel erreicht. Trotz anfänglicher Skepsis.
„Ich habe mich gefragt: Wie soll ich das machen? Ich hatte mit einer eigenen Saison geplant, und die kommen mit so was.“
Alexander Kosenkow
Auf der Laufstrecke ist er mein Auge. [...] Es ist schwer, sich bei solchen Geschwindigkeiten auf einen zu verlassen.“
Marcel Böttger