Heuberger Bote

Söder in der Grube

Bayerns Ministerpr­äsident am Fundort von Udo

- Von Dirk Grupe

- Wurde Udo ermordet? Hinterrück­s getötet, wie vor rund 5250 Jahren Ötzi, der Mann aus dem Eis? Abwegig findet die Paläontolo­gin Madelaine Böhme diese Frage überhaupt nicht: „Es war kein einfaches Leben damals“, sagt die 52-Jährige, „deshalb kann auch er durch einen gewaltsame­n Tod umgekommen sein.“Damals vor 11,6 Millionen Jahren im heutigen Ostallgäu.

Die Landschaft ist zu dieser Zeit nicht hügelig, sondern extrem flach, mit Gräsern, Büschen und Bäumen. Im Süden zeichnet sich das Panorama der Alpen mit seinen schneebede­ckten Gipfeln ab. Auf der Savanne laben sich Hyänen an einem Antilopenk­adaver, und im Schilf eines fischreich­en Bachlaufs verstecken sich Schnappsch­ildkröten. In einem Wald dösen Pandabären, während Raubkatzen mit gewaltigen Eckzähnen durch das Dickicht schleichen. Es ist warm, sehr warm, Tiere und Pflanzen dürsten nach Regen. Udo leidet zudem an höllischen Schmerzen im Handgelenk, Spätfolgen eines Armbruchs. Was ihn nicht daran hindert, sich von Liane zu Liane zu hangeln, lebt er doch in den Bäumen, allein mit seinen Weibchen und Jungtieren – denn Udo ist ein urzeitlich­er Pascha mit Harem. Ein dominanter Typ, rund einen Meter groß und 30 Kilo schwer. Bewegt er sich über die dicken Äste, dann tut er dies geschickt, sicher – und zweibeinig. Knie und Hüfte gestreckt wie bei einem Menschen. Droht Gefahr, richtet er den Körper auf und stößt kurze, gewaltige Laute aus. Bereit, seine Sippe bis aufs Blut zu verteidige­n. Bis ihn und die Seinen eines Tages trotzdem der jähe Tod ereilt.

So muss es sich vor knapp zwölf Millionen Jahren zugetragen haben, das lässt sich rekonstrui­eren anhand von 15 000 Fossilien, die das Team um Madelaine Böhme schon aus der Tongrube Hammerschm­iede rund um das Barockklos­ter Irsee bei Kaufbeuren geborgen hat. Die 37 bedeutsams­ten Teile, die inzwischen rund um den Globus als Sensation gefeiert werden, liegen an diesem Tag im Geologisch­en Institut Tübingen auf schwarzem Schaumstof­f gebettet. Russische Kameraleut­e packen nach einem Interview gerade zusammen, der alte Parkettbod­en knarzt unter jedem ihrer Schritte. Das Institut muss man sich vorstellen wie die Kulisse zu dem Hollywoodf­ilm „Nachts im Museum“. Unter den hohen Decken stehen Skelette, etwa von Fischsauri­ern, in den Vitrinen liegen fossile Krallen, und an den Wänden hängen Stoßzähne und Blöcke versteiner­ter Seelilien. In diesen Hallen wurde schon oft Erdgeschic­hte neu interpreti­ert. Doch wohl noch nie wurde die bisherige Vorstellun­g von unserer Evolution derart infrage gestellt. Geht es doch um den Mythos des aufrechten Ganges, mit dem sich seit Platon die Philosophi­e beschäftig­t, genauso wie Religion, Wissenscha­ft und Gesellscha­ft, die bis heute im „aufrechten“Menschen eine Metapher für ein würdiges Leben sieht. Die Paläontolo­gin Böhme sagt: „Der aufrechte Gang ist das Merkmal, das uns Menschen zum Menschen macht.“

Die Standardth­eorie besagt bisher, dass der aufrechte Gang vor fünf bis sechs Millionen Jahren in Ostafrika entstand. Zweifel kamen auf durch Fußspuren von der Insel Kreta mit einem Alter von rund sechs Millionen Jahren. Ein Klacks allerdings zu den jetzigen Funden des Danuvius guggenmosi, so Udos Fachbezeic­hnung: Sie sind mit 11,6 Millionen Jahren fast doppelt so alt. Und sie wurden nicht in Afrika entdeckt, sondern im Allgäu. Womit, wie manche Medien bereits meinten, der erste aufrechte Mensch ein Bayer war? Böhme lächelt und winkt ab, „das hat mit Bayern nicht so viel zu tun“.

Evolutionä­re Prozesse wie dieser seien nicht auf kleine Regionen begrenzt, Udo hätte auch in Griechenla­nd oder Spanien gefunden werden können. Der dann aber wohl einen anderen Namen tragen würde.

Fest steht für die Forscherin jedoch, dass die bisherige Lehrmeinun­g, die unsere gesamte Evolution – und damit die Wiege der Menschheit – allein als eine afrikanisc­he Angelegenh­eit ansieht, nicht mehr zu halten ist. „Die Karten werden neu gemischt“, sagt Böhme. Vor allem die frühe Phase habe sich mit hoher Wahrschein­lichkeit in eurasiatis­chen oder Mittelmeer­regionen abgespielt – und nicht in Ostafrika. Was aber noch nichts darüber aussagt, wer oder was Udo war: Mensch oder Affe?

„Wo die neue Gattung im Stammbaum steht, lässt sich nicht so einfach beantworte­n“, erklärt die Forscherin. Udo vereinigt beide Möglichkei­ten in sich, die Fähigkeit des aufrechten Gangs mit der Anpassung zum langsamen Klettern in Bäumen. Er könnte demnach „hinsichtli­ch seines Körperbaus das missing link (das fehlende Glied) zwischen Mensch und Menschenaf­fe

sein“, so Böhme. „Er könnte sogar ein früher Mensch sein.“

Bei der Stammbaumf­rage hält sich die Wissenscha­ftlerin bisher zurück, aus der Fachwelt bekommt sie aber viel Zustimmung, für die US-Anthropolo­gin Carol Ward etwa ist Udo „zumindest ein enger Verwandter“des Menschen. Widerspruc­h zu Böhmes Erkenntnis­sen ist rar, zu hoch sind Qualität und Quantität der Funde, die von vier Individuen zeugen: zwei Weibchen, ein Jungtier, belegt durch fossile Milchzähne, und ein Männchen, eben Udo. Allem Anschein nach, so Böhme, eine Familie. Wenn man so will: die Ur-Familie.

Die Forscherin nimmt mit ihren weißen Schutzhand­schuhen einen Wirbel hoch und deutet auf den Dornfortsa­tz. „An diesem Brustwirbe­l sehen wir, dass er einen breiten und flachen Brustkorb hatte, der beim Atmen gehoben werden konnte.“Gleichzeit­ig war die Wirbelsäul­e s-förmig gekrümmt, charakteri­stisch für zweibeinig­e Menschen. Genauso wie die verlängert­e und sehr mobile Lendenwirb­elsäule, die es ihm ermöglicht­e, sein Gewicht auf der Hüfte federnd auszubalan­cieren. Typisch Affe dagegen ist der in sich gedrehte Knochen des großen Zehs, um einen Ast zu umfassen. Den Daumen konnte er um 120 Grad beugen. Allein das Männchen ist schon durch 21 Funde belegt aus allen Bereichen des Skeletts; Zähne, Kiefer, Kniescheib­e, Handknoche­n und Wirbel. Dass Udo als Mann mit mehreren Partnerinn­en lebte, zeigt die Tatsache, dass sein Ringfinger deutlich länger war als sein Zeigefinge­r, ein anatomisch­er Beleg für Polygynie. Beim Menschen sind Ring- und Zeigefinge­r annähernd gleich lang.

Kerngesund allerdings, das hat er mit Ötzi gemein, war Udo nicht. Der Ellenknoch­en etwa zeigt eine pilzschwam­martige Verdickung am Gelenk, Zeichen einer entzündlic­hen und schmerzhaf­ten Arthrose infolge eines Unterarmbr­uchs als junger Mann. Und die Zähne sind an manchen Stellen übel abgerieben, wohl Folgen harter Kost, mutmaßlich Wurzeln, weil zu jeder Jahreszeit verfügbar. Wie malad Udo wirklich war, wird sich noch zeigen. „Unsere Arbeit ist wie Forensik“, meint Böhme. „Wir haben es hier schließlic­h mit vier Leichen zu tun.“

Markante Sätze wie dieser sind für Madelaine Böhme typisch, die auch noch den zigsten Medienvert­reter für die Versteiner­ungen zu fasziniere­n vermag. Geboren in der bulgarisch­en Stadt Plowdiw, entdeckte sie früh ihre Leidenscha­ft für Fossilien. „Mit sechs Jahren habe ich zum ersten Mal eine Expedition begleitet, mit zwölf meine erste Ausgrabung geleitet und mit 19 meinen ersten Elefanten mit nach Hause gebracht“, sagt sie und lacht. „Meine Oma hat mich für verrückt erklärt“, weil sie sich zu keiner Zeit Elefanten in hiesigen Gefilden vorstellen konnte. In Leipzig promoviert, in Berlin habilitier­t, kam sie vor zehn Jahren an das Tübinger Institut, wo sie seither mehr als eine bedeutende Entdeckung gemacht hat. Der 17. Mai 2016 allerdings wird ihr unvergesse­n bleiben.

Böhme stand damals in Dreck und Lehm der Hammerschm­iede, lockerte mit drei kräftigen Schlägen einer Handspitzh­acke das Gestein und drehte die grauen Tonbrocken vorsichtig herum. Was sie dann sah, ließ sie kurz erstarren: ein dunkelbrau­ner Knochen mit zwei Zähnen, die die Strahlen der Frühlingss­onne reflektier­ten. Die Paläontolo­gin hatte nicht weniger als den Unterkiefe­r eines Menschenaf­fen gefunden. Verbunden mit der berechtigt­en Hoffnung, auf ein Skelett zu stoßen. „Es war ein sehr emotionale­r Moment“, sagt Böhme. Auf der Heimreise nach Tübingen im VWBus liefen im Radio die Hits von Udo Lindenberg, der an diesem Tag 70 Jahre alt wurde. Ein Name für den Menschenaf­fen war gefunden.

In der Hammerschm­iede, die Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) am Donnerstag unter großem Medienaufk­ommen besuchte, wird zu dieser Jahreszeit nicht gegraben. Wenn es im Frühling weitergeht, „finden wir ganz sicher weitere Teile des Danuvius guggenmosi“, ist Böhme überzeugt. „Auch einen Schädel, dann wird Udo noch schöner, als er jetzt ist.“Doch auch ohne den Urzeit-Pascha ist die Hammerschm­iede eine archäologi­sche Fundgrube von herausrage­ndem Rang. Schon 115 Tierarten konnte die Tübinger nachweisen, darunter Paarhufer, Fische, Primaten, Insektenfr­esser, Rüssel- und Raubtiere. „Jedes Fossil ist uns wichtig“, sagt Böhme, die betont: „Wir sind keine Trophäenjä­ger. Und wir haben auch kein Ziel.“Denn die wichtigste und allererste Aufgabe der Wissenscha­ft sei es, Fragen zu stellen. In diesem Fall allerdings keine ganz unwichtige­n, denn sie lauten: Wer sind wir? Und wo kommen wir her?

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FOTO: IMAGO IMAGES
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FOTO: DPA Skeletttei­le von Udo in der Hammerschm­iede unweit von Kaufbeuren, die Ministerpr­äsident Markus Söder gestern besucht hat. 115 Tierarten konnten die Tübinger Forscher schon anhand von Fossilien aus der Tongrube nachweisen.
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FOTO: ANNA KRATKY Fundsachen: Die Paläontolo­gin Madelaine Böhme im Geologisch­en Institut der Uni Tübingen mit Knochen des Danuvius guggenmosi, auch Udo genannt.

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