Mit Technik gegen Reisekrankheit
Bei manchen Mitfahrern rebelliert der Magen im Auto schon nach kurzer Fahrt - Welche Maßnahmen Abhilfe schaffen sollen
Daniel Strauss, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
„Der Mensch darf von der Fahrdynamik nicht zu sehr überrascht sein, sonst wird ihm übel.“
Enge Kurve links. Weite Kurve rechts. Kurz abbremsen und dann wieder beschleunigen. Mit dem Auto geht es über die Berge. Für viele Autoinsassen eine Tortur. Denn nach kurzer Zeit im Auto tritt die Reisekrankheit auf und ihnen wird übel. Moderne Technik soll das künftig verhindern.
Generell tritt Unwohlsein im Auto auf, wenn die Informationen, die vom Gleichgewichtsorgan kommen, nicht mit den visuellen Informationen des Auges übereinstimmen. Im Auto kann das etwa passieren, wenn Passagiere während der Fahrt lesen.
„Der Körper spürt etwas anderes, als das Auge sieht“, sagt Daniel Strauss von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. „Das kann er nicht einordnen und reagiert wie bei einer Vergiftung: mit Übelkeit, Brechreiz, kaltem Schweiß und schnellem Puls.“Ausschlaggebend dafür sei die Anatomie des Innenohrs. Ein bis zwei Drittel aller Menschen kann die Reisekrankheit treffen. Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren seien dabei anfälliger als Erwachsene.
Blick nach vorn kann helfen
Die Reisekrankheit sei nur leicht von der Geschwindigkeit abhängig, sagt Hubertus Axer von der FriedrichSchiller-Universität in Jena. Einen größeren Einfluss haben abrupte Richtungsänderungen, wie sie auf bergigen Strecken auftreten. Wer Mitfahrer im Auto hat, denen schnell übel wird, sollte diese Strecken meiden.
Das Gehirn von häufig betroffenen Kindern kann laut Axer trainiert werden, auf kurzen und wenig kurvenreichen Strecken. „Dadurch tritt die Krankheit auf Dauer weniger stark auf“, sagt er. Axer rät dazu, den Blick aus dem Fenster nach vorne zu richten. Ein bewährtes Mittel, welches vielen bekannt sein dürfte.
Für Ludger Dragon von Mercedes-Benz liegt eine Stellschraube in der Fahrwerkseinstellung. Die Reisekrankheit
tritt häufig bei niedrigen Fahrwerkseigenfrequenzen von etwa 0,3 Hertz auf. Mercedes stellt laut Dragon daher alle Eigenfrequenzen der Fahrwerke zwischen eins und 1,5 Hertz ein, um Reisekrankheiten zu vermeiden..
Bei einem Hertz Eigenfrequenz federe das Auto sehr komfortabel ab, bei 1,5 Hertz sportlich straff. Die Dämpfung müsse entsprechend hart abgestimmt werden, damit das Fahrzeug nicht nachschaukelt, sagt Dragon. Sonst empfinden Passagiere es als unangenehm. Selbst nach tiefen Wellen dürfe das Auto nur einmal nachschaukeln.
Mehr Komfort bietet ein Luftfederfahrwerk
mit aktiver Verstelldämpfung. „In Kurven werden die Dämpfer härter, um möglichst wenig Seitenneigung zu erlangen, auf gerader Strecke weicher, damit Bodenwellen leichter ausgeglichen werden“, sagt Dragon. Das Team um Strauss hat mit dem Automobilzulieferer ZF aus Friedrichshafen in Fahrstudien ermittelt, dass die Reisekrankheit bei verschiedenen Fahrsituationen und bei jedem unterschiedlich ausgeprägt auftritt.
Zwei Ansätze gegen Übelkeit
Zur Linderung gebe es zwei Möglichkeiten: „Entweder die Fahrweise wird angepasst, sodass der Passagier die Fahrdynamik weniger spürt. Oder ihm wird die Fahrdynamik vermittelt, visuell, akustisch oder haptisch“, sagt Strauss. „Der Mensch darf von der Fahrdynamik nicht zu sehr überrascht sein, sonst wird ihm übel.“
„Früher im Schulbus musste man sich nach vorne setzen, wenn einem schwindelig wurde. Das wollen wir anders lösen“, sagt ZF-Ingenieur Florian
Dauth. Die Ingenieure forschen zum einen an der Prävention. Zum anderen soll das automatisierte Auto eigenständig Gegenmaßnahmen einleiten. Dafür muss es eine bestimmte Fahrweise lernen. Lenkung, Bremse, Motor, Feder und Dämpfer werden während der Fahrt entsprechend dem Wohlbefinden des Passagiers aufeinander abgestimmt.
Dauth denkt ein paar Jahre voraus, in eine Zeit, in der Autos autonom fahren und Passagiere sich anderen Dingen wie Lesen, Arbeiten oder Fernsehschauen widmen können. „Neue Systeme mit künstlicher Intelligenz sollen vergangene Fahrmanöver analysieren, die beim Passagier Symptome der Reisekrankheit hervorgerufen haben, um die darauffolgenden Fahrmanöver anzupassen.“
Das automatisierte Fahrzeug erlerne anhand der Körperreaktionen der Passagiere eine individuell angepasste Fahrstrategie. „Oder es plant automatisch eine entsprechende Route mit Fahrmanövern und Geschwindigkeiten, bei der die Reisekrankheit gar nicht erst auftritt“, sagt Dauth.
Auto soll Passagiere analysieren
Ideal ist es laut ZF-Ingenieur, wenn das neue Assistenzsystem ganz individuell auf die Passagiere reagieren würde. Dann könnte das System den Fahrern Informationen über ihre jeweiligen Fahrdynamiken zurückgeben, um die Übelkeit beim Fahren zu verhindern. Dies müsse allerdings so geschehen, dass die Fahrer es gar nicht merken. „Mit einer Dosis nahe an der Bewusstseinsschwelle, ohne dass die Passagiere überhaupt mitbekommen, dass ein Assistenzsystem ihnen gerade hilft“, sagt Strauss.
Das gelingt nur, wenn die Vitalwerte des Körpers erfasst werden. Entweder mittels Sensorik im Innenraum wie Kameras, oder anhand Wearables wie Uhren, die der Passagier am Körper trägt und die alle relevanten Vitalwerte erfassen. ZF entwickelt dafür ein Sensor-Set, das während der Fahrt kontinuierlich Informationen der Passagiere sammelt.
Vorstellbar sei bei derzeitigen Fahrzeugen ein Assistenzsystem, das per Knopfdruck das Fahrzeug sanfter fahren lässt. „Aber das System wäre nur für einen Normmenschen ausgelegt. Da aber jeder Passagier unterschiedlich auf die Reisekrankheit reagiert, wird die Wirkung eher gering sein“, sagt Strauss.